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DER

SEHER

GEISTER

VON PAUL SCHMID (SULZ)

Im Schnellzug zwischen Karlsruhe und Oos (ah ich meinen Freund Heinrich
nach längerer Trennungszeit wieder. Es ist nicht nötig, ihn vorzustellen, da er
es in der folgenden Gejchichte selbst tun wird. Vielleicht must ich ihn jedoch
entschuldigen: er ist ein hemmungsloser Anhänger der Philosophie des „Als
Ob". Im Unterschied von den Professoren, die dieser Lehre auf den Kathe-
dern huldigen, sucht Heinrich ihr in der Praxis Geltung zu verschaffen: er
macht mit ihr Ernst, und dabei kommt immer etwas Spaffiges heraus. Die fol-
gende Episode hat er mir zwischen Karlsruhe und Oos in aller Kürze erzählt
Er wies auf feinen einigermasten erstaunlichen Auszug hin und begann:

„Wie du weifst, gibt es gegen die neue in Deutschland grassierende Seuche
kein wirksames Mittel, obwohl man ihren Bazillus namens Ausländer längst
entdeckt hat. Ich selbst habe nach langem Zaudern es mit Mimikry versucht,
ich habe mich einfach verausländert. Meine alte Affefforeneleganz hat mich
in den Verruf der Schäbigkeit gebracht; wie du stehst, bin ich neuerdings von
Kopf zu Pust täuschend ä la Überfee ausstasstert. Betrete ich ein Reftaurant,
und bleibe ich trotz meines Auszugs unbeachtet fitzen, so tippe ich nur einige-
male dringlich auf den Tisch (Klingeln mit Glas bleibt unbeachtet) und rufe
indigniert: „Oberrl Snell das Trinkkartei” Sofort umringen mich befrackte
Helfer und Helfershelfer; die um-
liegenden deutschen Gäste selbst
bemühen sich unter Bücklingen.

Etwaigen Zweifeln an meiner
Echtheit begegne ich nicht da-
durch, dast ich französisch oder
englisch spreche, sondern durch
einfaches pstngsiliches Zungen
reden, wodurch ein weit tieferer
Eindruck sowohl aus die anwesen-
den Einheimischen, als auch be-
sonders aus etwaige Ausländer
erzielt wird.

Einmal habe ich eine Ausnah-
me gemacht und notgedrungen
mit meiner Muttersprache ope-
riert Ich befand mich im Lase
einem alten Herrn gegenüber,
dessen Herkunst durch bloste Be-
sichtigung nicht festzustellen war.

Das hervorstechende Kennzei-
chen bildete ein weister, in
Wellen stottierender Mosesbart
Das Gelicht drückte ungefähr
einen Charakter aus, der zwischen Gutmütigkeit und starker Neigung zur
Mystik stehen mochte; eine Mischung, die auch hier zu Lande bei überzeugten
Okkultisten nicht leiten anzutreffen ist. Das, der Bart die Gutmütigkeit über-
trieb und das leicht Fanatische der stechenden Augen milderte, stellte ich erst
nach längerer Betrachtung fest; ich zog ungefähr das arhhmetische Mittel
zwischen Tolstoi und dem Apostel Häusier und beruhigte mich endgültig bei
dieser Einteilung.

Halb und halb war ich aber doch erstaunt als mein Gegenüber nach Genusi
von Kaffee und Kuchen eine mächtige Sternkarte entfaltete und sich darin
vertiefte. Er maue sorgfältig Kreuze und Ringe hinein und hantierte mit ver
fchiedenen Farbstiften. Der Herr begann mich stark zu interessieren zumal ich
mich an verschiedene Zeitungsannoncen erinnerte, in denen englische und
amerikanische Professoren mit beigesebenem, meinem Nachbar nicht unähn-
lichem Porträt ihre astrologische Macht über das Schicksal und über mein Schick-
sal angepriesen hatten. Ich hielt es nicht für ausgeschlossen, dasi die Arbeit des
alten Herrn mir galt.

Ich wartete sekundlich aus die Frage, wann ich geboren sei, denn so weit
kannte ich mich in der Astrologie aus, die Kenntnis dieser Tatsache bildete den
Grundstock eines Hoioskop Aber der eigentümliche Mensch blieb stumm und
strich nur sehr sysiemaiisch auf seiner Himmelskarte herum, malte Vierecke
und Diagonalen, Kreise und wunderliche Kurven hinein

Da ritt mich der Teufel, ich redete den Vertieften an. Entsprechend der
Schwere des Falles holte ich ein sehr fern liegendes Zitat hervor, das mir
früher einmal bei der Beschäftigung mit Literaturgeschichte zufälligerweise
hängen geblieben war. Es ist in Buchstaben nicht wiederzugehen, ich brachte
es aber, wie ich versichern kann, |ehr chinesisch heraus.- eine Stelle aus der
Bibelübersetzung des Ulfila. - Wie von der Tarantel gestochen, fuhr das bär-
tige Mänmem hoch.

„Ah ah ah. Sie kennen geosie Bibel von Goten? Ich nämlich eben übersetze
Propheten Nehemia und Psalmen in Stabreimen 1”

Diese Erklärung brachte mich gleichfalls so sehr aus dem Konzept, dasi ich
ohne weiteres in meine Muttersprache zurückfiel. Indem ich vorgab, Theologe
zu sein, ermunterte ich ihn zu ausierordentlicher Gesprächigkeit. Es ergab sich,
dasi das Männlein ein Skandinavier mit stark amerikanischem Einschlag war,
von Hause aus Theologe, dann Theofoph, Astrolog, Übersetzer und Dichter.
- „Ich nicht besitze eine irdische Heimat, mir Heimat ist all der Kosmos, der
überallwo ist beseelt. Ich habe viele und grobe Gemeinde in Kopenhagen und
in Amerika." - Er legte mir in nicht immer verständlichen Worten die psy-
chische Bedeutung der Sterne dar, sprach von Seelenwanderungen, Auren und
Astralwesen, von prähistorischen, kosmischen Vorgängen, von Weltwerdungen
und luciferifchen Gei.ier(chlachten, von grünen, blauen, gelben Seelenheiten,
so eindringlich und überzeugend, dasi es mir grün, blau und gelb vor den
Augen wurde. — „Da ich bin Geistsorscher, mir nichts ist verborgen; es nur
gibt e i n gröberes Mensch als ich, aber leider deutsche fugend ihn nicht begreif!,
obwohl er ihr Bruder ist. Nichts ist Prophet in Vaterland.” - Es machte mir
Spasi, zu nicken. Begeistert von meiner vermeintlichen Zustimmung, fuhr er fort

„Kennen Sie Rudolf Holzer? Er ist ein gar grosier Forscher, ich habe ihn
nachgeprüft, es ist alles wahr, aber er ist noch viel mehr vorwärts gekommen

als ich. Aber deutsche fugend
hasit ihn, es ist wie in Wölund-
faga: er stiegt wie Wölund hoch
im Lust, und nicht können ihm
Pfeile von Feinden erreichen.”
Ich meinte, immer noch nik-
kend, dasi der Weg zu Holzer
ein sehr steiniger sei (oder um-
gekehrt, ich entsinne mich nicht
mehr genau), und schon siel er
mir, meine Hände schüttelnd, in
die Rede:

„O sehr steinig, das ist wahr,
aber was ist besser: wunde Füsie
oder gesunder Geist?"

Ehe ich zur Antwort ausholen
konnte, bereitete sich eine be-
trächtliche Überraschung vor.
Eine elegante junge Dame in
braunem Mantelcape, unter der
Ledermütze ein beinahe bübi-
sches Gesicht, sehr blond und
unbefangen, tauchte an unserem
Tische auf, raspelte etwas mit
Papa in der Mitte als Begrüsiung herunter und legte den Finger auf die Lippen:

„Du muht nicht haben solche laute und viel Diskufchion, du wirst nicht schla-
fen können, Papa;” darauf machte sie eine leichte entschuldigende Neigung
nach mir und nahm, wie mir schien, verhältnismäsiig dicht an meiner Seite
Platz. Mein Mystiker aber verstummte.

Es war mir klar, dasi nunmehr ein anderes Prinzip zu herrschen begann:
das Leben; den Kontrast der beiden Menschen fand ich entzückend unwahr-
scheinlich und aller direkten Deszendenz zuwiderlaufend. Ich fetzte mir zur
Aufgabe, den Spalt zu vertiefen und begann sofort die Partie der Stärkeren
zu spielen. Sie fand auch richtig mein Kompliment, dasi es unnötig fei, sich
weiterhin vom Himmel zu unterhalten, wenn einem ein leibhaftiger Engel
Gesellschaft leiste, allerliebst und behandelte den Papa als quantite negligeable.
Zwischendurch bemerkte sie allerdings, dasi er ein sehr grosier, sehr weiser
und berühmter Mann sei, zeigte mir ein dänisches und drei amerikanische
fournale, in welchen seine Photographie stand, tat dies aber offenbar nur
ihrer eigenen Eitelkeit zuliebe und keineswegs im Sinne einer Ehrenrettung.
Ich hatte mittlerweile, um ihr zu imponieren, mein Gesicht stark ins Ironische
umgestellt und ging davon auch nach Vorlage der schriftlichen Beweisstücke
nicht ab.

Es machte mächtigen Eindruck. Sie schob dem Erzeuger eine halbe geschälte
Orange auf die Sternkarte, ohne ihn in der Fortsetzung feiner Forschung zu
stören. Dann erfuhr ich, dasi sie und er über Italia direkt von Amerika ge-
kommen seien.

„O es ist nicht schön in Deutschland," meinte sie, „auch sind deutsche Damen
gar nicht well dressed.” — Etwas später teilte sie mir bereits mit, dasi ihrer
Ansicht nach deutsche Frauen ebenso find wie deutsche Landschast: sehr stach.
Sie sagte es dermasien liebenswürdig und zwar mit einer beiläusigen An-
näherung ihrer Fusispitze an die meine, dasi ich wider besseres Wissen zu-
stimmte. Nach einer Minute explizierte sie mir schon, was sie unter stach ver-
stand. indem sie die skandinavische Landschast wild und leidenschastlich nannte.

DIE MUTTER SINGT

Im roten Mond, nach Mitternacht,
die Gärten frieren weit und weift.

Ich aber weif) nicht, was mich fröhlich macht
am Fensterholm bei Mond und Eis,
als hätte süsier Wein,
ja Wein mein weisies Blut entfacht - :
schlaf ein mein Kind, schlaf ein I

Im Mond der rote Vogel spinnt
so seidensein den Himmel zu.

Dagehnnidit Uhren mehr; die Welt zerrinnt
und ich bin nicht mehr ich, nicht Du,
nur weift und weitallein
vor einem Wagen leiser Wind - :
schlaf ein mein Kind, schlaf ein!

PAUL

IM FIEBERWIND _

Der Wagen fährt so schwer im Schnee,
ein schwarzer Schatten bleibt starr stehn
und weint im weiten Schnee (obitterweh
Ich kann n ch' seine Augen sehn
und brenn doch tief hinein,
will sein sein treues weisies Reh —:
schlaf ein mein Kind, schlaf ein!

Der Schatten bleibt die lange Nacht
vorm Fenster stehn... ich halt's nicht aus
bei ihm, der nicht mehr weint, nicht lacht
und schrei es weiter noch hinaus:

Ich hab bei Mond und Wein
mein weisies Seelchen umgebracht...
Schlaf ein mein Kind, schlaf ein!
ZECH

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Paul Schmid: Der Geisterseher
Paul Zech: Die Mutter singt
 
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