Jahrgang i gr ; Sondernummer: „Ver künstlerische Film" Heft Nr. ö
Der Monumentalfilm
von A. ve Nora
Zn der Sylvestermitternacht schlug auf einmal die Uhr der Frauenkirche
dreizehn. Niemand konnte es sich erklären. Der Turmuhrmacher wurde ge-
rufen, untersuchte das Werk, fand es vollkommen in Ordnung. Linige ver-
muteten, der Türmer habe zuviel Sylvesterpunfch getrunken, daswrk einen
Schlag mehr tun lassen. Ver Türmer hingegen behauptete, den Rausch hätten
jene gehabt, die einen Schlag ruvlel gehört.
Mich Interessierte der Fall, ich bin ein alter .Turmiö', das heißt, ein Mann,
der alle möglichen Türme besteigt, meist von innen, aber auch von außen.
Man liest von Zelt zu Zeit, auf der Spitze des Kölner Doms oder des Ulmer
Münsters oder des Eiffelturms fei in der Nacht eine Fahne gehißt worden.
Niemand weiß, wie sie hinaufgekommen. Ver geheimnisvolle Lnthüller ist
nicht zu enthüllen. Ver bin immer — ich! Zch klettere jedoch nicht zum Ver-
gnügen. Meist werde ich teuer dafür bezahlt, von großen Zeitungen, denen
es an Stoff mangelt. Sie geben mir eine um io höhere Summe, je höher
der Turm, — die Flagge weht. Sie haben zu schreiben, ich zu essen... Da-
durch bin Ich in ein intimes Verhältnis zu Türmen geraten. Zch kenne sie,
sie kennen mich. Zch erfahre von ihrer Geschichte, ihrem Leben mehr, als die
Historiker.
Zum Beispiel: weiß Zemand, daß die beiden ^^^stz^dltch.Die Frau
München verheiratet sind? Ver Mann steht lin ,s . j^eviertel-
hat das große Uhr- und Mundwerk. Sie rede^ Tag ^ ^ ^st wäre
stunde gibt sie ihren Sens zur Sauce der Zeit. ® 9 ' brummte. Sie
aus den Fugen, wenn sie nicht schlüge, fange, b - y
lebt in beständiger Unruhe und Neugier. Zmmer m ) I ge( jedem
mehr Menschen in ihr auf- und abklettern, desto lle er') ^^ckenrcden.
8est- und Feiertag hängt sie bunte Lappen heraus, ha ,^hen, um den
Als vor zwanzig Zähren die alten Häuser niedriger f>e ^malen.
Domplah frei zu legen, war sie die erste, die sich Photograph schweigsam.
Auf Postkarten drucken. Der männliche Frauenturm ist > ^ gw(e
Nur wenn man in seinem Nopl sitzt, um Mitternacht, Hort
des Turms summen und kann sich mit ihm unterhalten. . (n bet
Ss bestand für mich kein Zweisel, daß dieser dreizehn J^mcanbänge.
Splvesternacht irgendwie mit der Lhe der beiden Turme; , zu
Zunächst srug ich natürlich die Frau. Ls war nichts a ) et£lätte jse,
bringen. Lrst leugnete sie überhaupt, geschlagen zu ha > bätte nur
es wären nicht dreizehn, sondern vierzehn Schläge ^^ «^ux.jie werde
probieren wollen, wie oft man schlagen könne. Vann ! ) trium-
überhaupt nicht mehr schlagen. Schließlich schlug 1_ej* hätte drei-
phierend: „Nun also? wie kommen Sie dazu, zu eh
zehn geschlagen?!" ^dröhnte vor Vergnügen,
Va verließ ich sie und kletterte zuZhm hinüber. '
als ich >am: „Lndlich!"
„warum denn?" wollt ich wissen.
„Ls >st nicht mehr auszuhaltenl'
„Mit wem?"
„Mit meiner Frau. Sie tyrannisiert mich. Macht mir das Leben uner-
träglich. Schulmeistert mich wie einen Lausbuben..."
„Zn der Neujahrsnacht war es wohl besonders schlimm'
„Natürlich. Zch gratuliere gewöhnlich durch Lntsendung eines Vohlen-
schwarms, sie erwidert meist durch zwölf herrliche Schläge. Aus verleben
entfuhr ihr diesmal ein dreizehnter. Raum war dies geschehen, geriet sie
außer sich und beschwor, ich sei daran schuld! Dreizehn sei eine Unglückszahl,
wir würden sicher in diesem Zahl den Kopf verlieren oder bolschewistisch
werden oder von den Franzosen beseht, was weiß ich noch. Zch suchte ihr
das ausrureden, aber, wie es so geht, statt sich zu beruhigen, schalt sie mich
immer mehr aus, sagte, ich wäre ein Tagedieb, täte seit Zahrhunderten
nichts, wär rein zum Maulaffmfeilbieten auf der Welt. Va ließe fich der
Rathausturm, so jung er fei, anders an! Ver hätte ein Mundwerk wie ein
Glockenspiel, einen Lift, mit dem er sich Geld verdiene, Galerien zum Fremd en-
besuch, kurz, der wäre ein ganzer Kerl!"
„Aber wenigstens im Stil," sagte ich, „sind Sie ihm über!"
„Meinen Sie?" klagte der Turm, „da fragen Sie nur meine Frau. Sie
hält mir vor, nur er habe die echte Gotik und die herrliche Gestalt und den
aristokratischen spitzen Schädel... Kurz, es ist nicht zu ertragen ... was
soll ich tun?"
„Gott," riet ich, „lassen Sie sich scheiden!"
„Zch liebe sie zusehr!" schluchzte der Riese, „kann ohne sie nicht leben.
Allein ich möchte ihr wenigstens beweisen, daß ich nicht schlechter bin als
jener Andre, jener Grasaffe? Sagen Sie mir, wie kann ich mich betätigen?
wie kann ich etwas verdienen?"
Ich dachte ein wenig nach.
„Gehen Sie zum Film! Alle Größen gehen heute zum Film, weil man
das meiste Geld dort verdient. Sle werden sicher hoch bezahlt werden."
Lr: „was muß man tun?"
„Das wird Ihnen der Regisseur alles vorschreiben. Vie Hauptsache ist,
daß Sle sich in Bewegung fetzen."
„Linverstanden!" rief er, „melden Sie mich bei einer Großunterneh-
mung an!"
Frau Frauenturm hatte das größte Vergnügen, als wir einige Tage
später mit unferm Operateur und den Apparaten vor ihr Ausstellung nahmen,
wie erstaunte sie aber, da auf einen Wink des Regisseurs ihr Mann plötzlich
mit einem kleinen Ruck die Lisenstange zerbrach, durch die sie seit Jahr-
hunderten verbunden waren und sich gegen die Vomsreiheit hin zur Neu-
hauserstraße entfernte! wir hatten ihm den weg zum Atelier genau vor-
gezeichnet und es war herrlich, wie er vorsichtig aber unverdrossen weiter-
kam. Stand ein Haus oder Tor im Wege, schob er es behutsam mit seinen
Riefensüßen zur Seite. Vie Drähte der Llektrifchen blieben wie Spinngewebe
an feinen Stiefeln hängen, die Bogenlampen rieselten gleich Tautropfen
von ihnen nieder. Als er über die Zfaibrücke wollte, brach sie zusammen,
aber er watete gemächlich durch das Hochwasser und stieg über den Giesinqer.'
berg, als wenn es ein Maulwurfshügel wäre, pünktlich traf er im Atelier
ein, wo das erste war, daß wir ihm einen Glockenstuhl zum Sitzen an-
boten und eine Großaufnahme machten.
Vann erklärte ihm der Regisseur seine Rolle.
„Sie sind in die Zungfrau verliebt —"
„Nein!" protestierte der Frauenturm.
„Za!" entschied der Regisseur. „Und zwar, weil Ihnen ein Adler das Bild
der Geliebten gebracht hat. Sie nahmen sofort lebhaftes Interesse an der
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Der Monumentalfilm
von A. ve Nora
Zn der Sylvestermitternacht schlug auf einmal die Uhr der Frauenkirche
dreizehn. Niemand konnte es sich erklären. Der Turmuhrmacher wurde ge-
rufen, untersuchte das Werk, fand es vollkommen in Ordnung. Linige ver-
muteten, der Türmer habe zuviel Sylvesterpunfch getrunken, daswrk einen
Schlag mehr tun lassen. Ver Türmer hingegen behauptete, den Rausch hätten
jene gehabt, die einen Schlag ruvlel gehört.
Mich Interessierte der Fall, ich bin ein alter .Turmiö', das heißt, ein Mann,
der alle möglichen Türme besteigt, meist von innen, aber auch von außen.
Man liest von Zelt zu Zeit, auf der Spitze des Kölner Doms oder des Ulmer
Münsters oder des Eiffelturms fei in der Nacht eine Fahne gehißt worden.
Niemand weiß, wie sie hinaufgekommen. Ver geheimnisvolle Lnthüller ist
nicht zu enthüllen. Ver bin immer — ich! Zch klettere jedoch nicht zum Ver-
gnügen. Meist werde ich teuer dafür bezahlt, von großen Zeitungen, denen
es an Stoff mangelt. Sie geben mir eine um io höhere Summe, je höher
der Turm, — die Flagge weht. Sie haben zu schreiben, ich zu essen... Da-
durch bin Ich in ein intimes Verhältnis zu Türmen geraten. Zch kenne sie,
sie kennen mich. Zch erfahre von ihrer Geschichte, ihrem Leben mehr, als die
Historiker.
Zum Beispiel: weiß Zemand, daß die beiden ^^^stz^dltch.Die Frau
München verheiratet sind? Ver Mann steht lin ,s . j^eviertel-
hat das große Uhr- und Mundwerk. Sie rede^ Tag ^ ^ ^st wäre
stunde gibt sie ihren Sens zur Sauce der Zeit. ® 9 ' brummte. Sie
aus den Fugen, wenn sie nicht schlüge, fange, b - y
lebt in beständiger Unruhe und Neugier. Zmmer m ) I ge( jedem
mehr Menschen in ihr auf- und abklettern, desto lle er') ^^ckenrcden.
8est- und Feiertag hängt sie bunte Lappen heraus, ha ,^hen, um den
Als vor zwanzig Zähren die alten Häuser niedriger f>e ^malen.
Domplah frei zu legen, war sie die erste, die sich Photograph schweigsam.
Auf Postkarten drucken. Der männliche Frauenturm ist > ^ gw(e
Nur wenn man in seinem Nopl sitzt, um Mitternacht, Hort
des Turms summen und kann sich mit ihm unterhalten. . (n bet
Ss bestand für mich kein Zweisel, daß dieser dreizehn J^mcanbänge.
Splvesternacht irgendwie mit der Lhe der beiden Turme; , zu
Zunächst srug ich natürlich die Frau. Ls war nichts a ) et£lätte jse,
bringen. Lrst leugnete sie überhaupt, geschlagen zu ha > bätte nur
es wären nicht dreizehn, sondern vierzehn Schläge ^^ «^ux.jie werde
probieren wollen, wie oft man schlagen könne. Vann ! ) trium-
überhaupt nicht mehr schlagen. Schließlich schlug 1_ej* hätte drei-
phierend: „Nun also? wie kommen Sie dazu, zu eh
zehn geschlagen?!" ^dröhnte vor Vergnügen,
Va verließ ich sie und kletterte zuZhm hinüber. '
als ich >am: „Lndlich!"
„warum denn?" wollt ich wissen.
„Ls >st nicht mehr auszuhaltenl'
„Mit wem?"
„Mit meiner Frau. Sie tyrannisiert mich. Macht mir das Leben uner-
träglich. Schulmeistert mich wie einen Lausbuben..."
„Zn der Neujahrsnacht war es wohl besonders schlimm'
„Natürlich. Zch gratuliere gewöhnlich durch Lntsendung eines Vohlen-
schwarms, sie erwidert meist durch zwölf herrliche Schläge. Aus verleben
entfuhr ihr diesmal ein dreizehnter. Raum war dies geschehen, geriet sie
außer sich und beschwor, ich sei daran schuld! Dreizehn sei eine Unglückszahl,
wir würden sicher in diesem Zahl den Kopf verlieren oder bolschewistisch
werden oder von den Franzosen beseht, was weiß ich noch. Zch suchte ihr
das ausrureden, aber, wie es so geht, statt sich zu beruhigen, schalt sie mich
immer mehr aus, sagte, ich wäre ein Tagedieb, täte seit Zahrhunderten
nichts, wär rein zum Maulaffmfeilbieten auf der Welt. Va ließe fich der
Rathausturm, so jung er fei, anders an! Ver hätte ein Mundwerk wie ein
Glockenspiel, einen Lift, mit dem er sich Geld verdiene, Galerien zum Fremd en-
besuch, kurz, der wäre ein ganzer Kerl!"
„Aber wenigstens im Stil," sagte ich, „sind Sie ihm über!"
„Meinen Sie?" klagte der Turm, „da fragen Sie nur meine Frau. Sie
hält mir vor, nur er habe die echte Gotik und die herrliche Gestalt und den
aristokratischen spitzen Schädel... Kurz, es ist nicht zu ertragen ... was
soll ich tun?"
„Gott," riet ich, „lassen Sie sich scheiden!"
„Zch liebe sie zusehr!" schluchzte der Riese, „kann ohne sie nicht leben.
Allein ich möchte ihr wenigstens beweisen, daß ich nicht schlechter bin als
jener Andre, jener Grasaffe? Sagen Sie mir, wie kann ich mich betätigen?
wie kann ich etwas verdienen?"
Ich dachte ein wenig nach.
„Gehen Sie zum Film! Alle Größen gehen heute zum Film, weil man
das meiste Geld dort verdient. Sle werden sicher hoch bezahlt werden."
Lr: „was muß man tun?"
„Das wird Ihnen der Regisseur alles vorschreiben. Vie Hauptsache ist,
daß Sle sich in Bewegung fetzen."
„Linverstanden!" rief er, „melden Sie mich bei einer Großunterneh-
mung an!"
Frau Frauenturm hatte das größte Vergnügen, als wir einige Tage
später mit unferm Operateur und den Apparaten vor ihr Ausstellung nahmen,
wie erstaunte sie aber, da auf einen Wink des Regisseurs ihr Mann plötzlich
mit einem kleinen Ruck die Lisenstange zerbrach, durch die sie seit Jahr-
hunderten verbunden waren und sich gegen die Vomsreiheit hin zur Neu-
hauserstraße entfernte! wir hatten ihm den weg zum Atelier genau vor-
gezeichnet und es war herrlich, wie er vorsichtig aber unverdrossen weiter-
kam. Stand ein Haus oder Tor im Wege, schob er es behutsam mit seinen
Riefensüßen zur Seite. Vie Drähte der Llektrifchen blieben wie Spinngewebe
an feinen Stiefeln hängen, die Bogenlampen rieselten gleich Tautropfen
von ihnen nieder. Als er über die Zfaibrücke wollte, brach sie zusammen,
aber er watete gemächlich durch das Hochwasser und stieg über den Giesinqer.'
berg, als wenn es ein Maulwurfshügel wäre, pünktlich traf er im Atelier
ein, wo das erste war, daß wir ihm einen Glockenstuhl zum Sitzen an-
boten und eine Großaufnahme machten.
Vann erklärte ihm der Regisseur seine Rolle.
„Sie sind in die Zungfrau verliebt —"
„Nein!" protestierte der Frauenturm.
„Za!" entschied der Regisseur. „Und zwar, weil Ihnen ein Adler das Bild
der Geliebten gebracht hat. Sie nahmen sofort lebhaftes Interesse an der
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