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WALTHER LEHN HR

I N T E R V I E VON DIETRICH LODER

Sehr geehrte Redaktion!

Während ich nachfolgende Zeilen mit letzter Lebenskraft meiner Privat-
sekretärin diktiere, bemühen sich in liebreichster Weise 14 Personen um
mich: 2 Krankenschwestern, die an mir alle die Stellen aufspüren, wo
sie einen Wickel oder einen Eisbeutel anbringen können; eine dritte Schwe-
ster, die mir viertelstündlich Kamillentee einslößt; 2 Chirurgen, die die
vorwitzig aus meinem armen Leichnam herausragenden Knochensprößlinge
sorglich absägen; l medizinische Kapazität, welche fortwährend den Kopf
schüttelt und unpaffende Ovidverse rezitiert, um mich glauben zu machen,
er wüßte den lateinischen Namen meines Zustandes; I eben absolvierter
Medizinalpraktikant, — obendrein noch ein Korpsbruder von mir —, der
mit teuflischer Lust jene Stellen, an denen kein Wickel oder Eisbeutel an-
zubringen ist, mit Jod bepinselt; meine Frau, die sich unter Tränen nach
der Höhe meiner Lebensversicherungsprämie erkundigt und endlich meine
6 Kinder, die abwechselnd nach Brot schreien oder mit Besen und Kohlen-
schaufel meine Knochenabfälle in den Kehrichteimer sammeln. Der Buch-

binder, der das Maß zu meinem
Pappendeckelsarg nehmen soll, ist noch
nicht da, der Agent der Beerdigungs-
anstalt „Liebchen adjöh"! ist bereits
wieder verschwunden, nachdem er mir
so höflich, wie er nur zu Kunden seiner
Firma ist, ei» herzliches „Sterben
Sie wohl!" zugerufen hat.

Und warum dieser ganze Personal-
aufwand? Nicht etwa zur Beschäfti-
gung von Arbeitslosen, sondern nur
aus dem Grunde, weil Sie, geehrte
Redaktion, mir den ehrenvollen Auf-
trag erteilt hatten, den Vorstand des
Turnvereins „Biceps 1923" zu inter-
viewen.Gewiß werdenSie jetzt schmerz-
liche Krokodilstränen weinen — nicht
über mich, sondern über den Vorschuß,
den Sie mir gezahlt haben und der
Ihnen nun verloren scheint. Aber Sie
sollen sehe», daß ich noch Ehre im
Leibe habe, wenngleich schon alle we-
sentlicheren Teile aus mir herausope-
riert sind, und wenngleich ich auch dank
derBemühungen meines jungenKorps-
bruderS mehr einem Bantuneger als
einem hochkultivierten Abendländer
gleiche. Sie sollen sehen, was ein tüch-
tigerBerichterstatter zu leisten vermag
— wenn er genügend Vorschuß hat.
Nicht meine Schuld also ist cs, wen»
ich infolge einer gewissen Komplikation
der Umstände mich gezwungen sah, das
hochintereffante Interview bei dem
Bicepsvorstand vorzeitig abzubrechen.

Vorgestern — am letzten Mittwoch
>— machte ich meinenBesuch bei Herrn
Alois Schlumperer, der mich sogleich
empstng. Schon beim Eintritt war ich
angenehm überrascht. Der Herr, der
mir entgegentrat, war so eine Art
Milon von Kroton, der mit einer
Watschen einen Stier erledigt und mit
zwei Fingern einen Tausendmarkschein
zerdrückt. Die ganze Inneneinrichtung
des behaglichen Zimmers war geschmack-
voll nach Turngeräten stilisiert: die
Vorhänge hingen von Reckstangen her-
unter, die Lehnstühle waren ä la Bar-
ren gearbeitet, Bücher, Geschirr usw.
standen auf hohen Regalen, die man an Seil oder Kletterstange erreichte,
im Abstand von eineinhalb Meter waren Bretterverschläge, über die man
nach Belieben mit Freisprung, Flanke, Hocke oder Grätsche sehen konnte,
die Schalter zum elektrischen Licht endlich waren nur nach einem kräftigen
Klimmzug an der Wandleiste zu bedienen. Herr Schlumperer kegelte
mir unter donnerndem „Gut Heil"-Rufen mit einem kräftigen Hände-
druck den rechten Arm aus, bat mich, im Erker Platz zu nehmen und setzte
mit einem ungeheuren Saltomortale über die dazwischen liegenden
Verschlüge; ich kam eine Viertelstunde später mit zerschundenen Händen
und Schienbeinen, zerrissenen Hosen und blutender Nase an. Herr
Schlumperer bedauerte mein Mißgeschick und fragte höflich nach meinem
Begehr.

„Es ward mir der ehrenvolle Auftrag zuteil, Sie, Herr Schlumperer,
als prominente Persönlichkeit der deutschen Turnerschast über einige
wesentliche Momente des Gedankens der Turnerei an sich, ihrer sowohl
physischen als auch insbesondere psychischen Einwirkungen, mit andern
Worten nicht allein der Stählung der Muskeln und Gliedmaßen also,
sondern auch des ethisch ertüchtigenden Einflusses vorbenannter Tätigkeit

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Walther Lehner: Zeichnung ohne Titel
Dietrich Loder: Interview
 
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