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K A I

VON ERICH MARIA REMARQUE — MIT OR

m Jngleficld-Gols stellte Doktor
Knudsen außer I'arr^a arctioa und
Saxifraga-Arten sogar schon einige
Geum glaciale fest. Es wurde also
Sommer. Zwei Wochen darauf war
der Schnee feucht und brach unter
den Hunden ein. Jeder Mann der
Erpedition mußte mithelfen, die
Schlitten zu ziehen. Die Instru-
mente und die Sammlungen über-
wachte Knudsen nur mit großer
Mühe; denn die Eskimos waren
schlapp geworden und wollten die
schwere Last verlieren. Endlich kam man in Etab an. Die Bewohner
stürzten aus den Häusern und brachten Speck und Seehundfleisch. Es
wurde beschloffen, vorläufig liegen zu bleiben und die Sammlungen zu
sichten, um dann ohne wiffenschaftlicke Geräte den Vorstoß zum Pol zu
unternehmen. Jedoch die Eskimos warnten und erzählten die Schicksale
der letzten drei Expeditionen. Knudsen wurde schwankend. Alle gingen
zu Kai, um ihn zu bereden, die Fahrt aufzugeben und die reichhaltigen
Sammlungen nach Bassin-Land zu bringen, um rechtzeitig mit den
Walsischfängern zurückzukebren. Aber Kai schüttelte nur den Kopf und
börte gar nicht hin.

Es hieß, er sei Student gewesen in Stockholm, aber niemand wußte
Genaues. Er sollte reich und angesehen gewesen sein und eine vortreff-
liche Frau gehabt haben, die er ohne Grund verlassen hätte. Man
wußte, daß er schon zweimal gegen den Pol vorgestoßen war, das eine
Mal von Nowaja Semlja aus, das zweite Mal durch die Beringstraße.
Jetzt war er von König-Wilhelm-Land über das Packeis Grönlands mit
Hundeschlitten und Eskimos bis Etah gekommen.

Er hatte irgend etwas im Leben gesucht, woran er sein Dasein hän-
gen könne. Sein helläugiger Verstand bewahrte ihn davor, Gefühls-
blendwerk und Blutgaukelspiel mit seinem Wunsche zu verquirlen. So
war er bald an die Grenzen gelangt, hinter denen das Chaos gähnte.
Da er inzwischen den Begriff Glück verlernt hatte wie ein Landwirt-
schafisinspektor die Trojanischen Kriege, und da ihm außerdem die fünf-
zig oder hundert Jahre seines vorübergehenden Aufenthalts oberhalb der
Erdkruste zu kurz erschienen, um etwas Erträgliches zu beginnen, hatte
er kurzentschlossen aus seinem Suchen sein Ziel gemacht: das Fliegen

über immer uferloseren Meeren, immer ferneren Firnen, immer grenzen-
loseren Weiten-nur das Fliegen. In einer Laune hatte er die Pol-

expedition begonnen, die sein Säücksal werden sollte.

Als der Schnee wieder hielt, fragte Kai. wer ihm folgen wolle.
Knudsen und vier Eskimos meldeten sich. Die Schlitten wurden beladen
mit Proviant für zwei Monate und Munition. Die Hunde waren aus-
geruht und trugen die Schwänze hoch. Bald war Etah in einer Wolke
von Staubschnee versunken.

IQI NALSCHN ITTEN VON OTTO NÜCKEL

Als nördlich der Humboldtgletscher überquert war, schoß Kai zwei
Seehunde und Knudsen einen Moschusochsen. Man lagerte zwei Tage.
Weiter östlich hörte die Vegetation allmählich auf. In den folgenden
Tagen wurden zwei magere Schneehasen erbeutet. Der Proviant mußte
angebrochen werden. Abends hing über der Packeislinie von Washington-
land ein Polarlicht, das langsam in grüne und gelbe Streifen zerfiel.
Aber die ganze Nacht glimmte es noch rot am Horizont. Es gab
Schnee.

Nur langsam kamen die Hunde weiter; der Sturm blies sie fast weg.
Sie wurden auf halbe Rationen gesetzt. In der Nacht bissen drei die
Lederriemen durch, mit denen sie vor den Zelten angepflockt waren, und

fraßen das beste Fleisch auf. Knudsen wurde krank. Die Eskimos sahen
an der Küste Pinguine landeinwärts wandern. Es wurde ein strenger
Winter.

Darjak, der beste Robbenjäger, schlug Kai vor, umzukehren. Aber der
schüttelte nur den Kopf und hörte gar nicht hin.

Endlich erreichte man den De Long-Fjord. Aber trotzdem Wafferlöcher
da waren, sah man keine Seehunde. Kai ließ Flaschen mit Nachrichten
über den Verlauf der Reise niedcrlcgcn und ein Stcinmal als Ke»»-
zeichen darüber türmen. Dann rechnete er den Proviant nach. Er reichte
noch für einen Monat. Knudsen war sehr schwach. Er sagte zu Kai es
sei Wahnsinn. Aber der lächelte nur.

Am folgenden Tage sah man 83° 12' eine eiserne Schlittenstangc in
einem Stembaufcn stecken und in der Nähe Spuren von Eisbären
Nack vier Stunden fand man einen Kupferzylinder mit Nachrichten
Lockwoods vom 12. Februar 1882. Erst am Tage darauf kam man so
tief, daß man auf das Lebcnsmitteldepot stieß. Die Dosen mit Pemmi-
kan waren trotz der langen Zeit noch wie frisch. Kai verteilte vier Dosen
und ließ den Rest als Stützpunkt für die Rückreise wieder «ingraben.
Dann ging es weiter.

Die Vegetation hörte ganz auf. Zwei Schlitten brachen und mußten
notdürftig repariext werden. Immer häufiger hingen Nordlichter am
Himmel. Die mageren Hunde konnten nicht mehr und legten sich hi„.
Man mußte abfteigcn und vor ihnen hergehen, damit sie folgten. Sie
wurden struppig und glanzlos. Tief hingen die Schwänze. Knudsen schic»
Skorbut zu haben. Kai schwieg.

Stürme hatten das Gletschereis blank gefegt und wehte» die angst,
voll heulenden Hunde mit den Schlitten über das blanke Eis. Kai ließ
ihnen Kamikcr aus Pelz machen und unter die Füße binden. Bald dar-
auf stürzte Darjak in eine Eisspalte, die mit Schnee zugeweht war und
brach den Arm. Knudsen erbrach Blut. Die Hunde waren nicht mehr
weiter zu bringen. Kai ließ drei von ihnen schlachten und das Fleisch den
übrigen geben; die knurrten und hatten das zähe Fleisch erst am andern
Morgen gefressen.

Da kamen alle in Kais Zelt. Aber keiner wollte cs sage». Endlich
begann Knudsen. Sie seien jetzt fünfundzwanzig Tage weit vom De-
pot. Der Proviant reiche noch zwölf Tage. Wen» man halbe Rationen

v
Index
Erich Maria Remarque: Kai
Otto Nückel: Illustrationen zum Text "Kai"
 
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