rechne, vierundzwanzig Tage. Die Hunde seien ausgemergelt, die Men-
schen mager und krank. Es sei sinnlos, nur einen Schritt weiter zu
gehen, denn dann könne man nicht zurück. Es sei setzt schon mehr als
fraglich.
Kai sah ihn lang an. Sagte: „Du hast recht", und ging zu den Schlit-
ten. Schob einen zur Seite. Nahm fünf Hunde und pflockte sie seit-
wärts im Schnee fest. Legte Proviant auf den Schlitten und sagte zu
Knudsen: „Wir sind sechs, haben sechs Schlitten und zwciunddrcisiig
Hunde. Auf einen Mann kommt ein Schlitten mit fünf Hunden. Ist
das recht?" Und als der verständnislos nickte, fragte er: „Ist das dort
auf dem Schlitten zu viel Provianttcil für einen Mann?" Da Knudsen
den Kops schüttelte, sagte Kai, sich schon zurückwendcnd: „Ihr fahrt
morgen früh zurück. Bis zum Depot kommt Ihr, wenn Ihr noch sechs
oder acht Hunde schlachtet und eßt; mit den Lebensmitteln kommt Ihr
bis zur Humboldtbai; da findet Ibr vielleicht Hasen oder Seehunde,
sonst müsit Ibr wieder Hunde schlackten, bis Ihr fünfzig Kilometer vor
Etah seid. Dann schlagt ein Lager auf, kriecht in die Schlassäcke und
schickt Darsak mit den letzten Hunden weiter, damit man Euch von
Etah entsetzt." Und als Knudsen ihn fragend ansah, kurz: „Ich fabre
weiter — "
Davon ließ er sich nicht abbringen, so sehr die andern auch baten,
trotzten, Gewalt anwenden wollten. Er sagte nur, als Knudsen ihm be-
wies, das sei sicherer Tod: „Das weiß ich —." Dann schwieg er und
sah nach Norden.
Am andern Mittag endlich gaben sie es auf, ihn mitzubringen. Sie
NACHT
SKIZZE VON
In einem Kupee des Nachtzuges Wien — Budapest sitzen drei Men-
schen; i» der Fcnstcreckc ein junges Weib, allein, blaß und verträumt in
die dunklen Polster geschmiegt und zwei glückliche Verliebte, anscheinend
eben erst getraut, die es nur als halbe Störung empfinden, daß ihnen
ein so stiller Fabrttcilncbmer in ibrc Zweisamkeit geworfen wurde. —
Die Frau am Fenster kümmert sich nicht um die beiden; sie hat sie
beim Eintreten kaum beachtet und ist froh, sich ihren Gedanken über-
lasten zu können. — Ihre Augen, manchmal von Müdigkeit überwältigt,
öffnen sich immer wieder groß und dunkel den hinreißend schönen, ge-
heimnisvollen Konturen der verblasienten Dämmerung draußen. —
Kühl crsckaucrnd streicht der Nacktwind durck das balboffene Fenster,
und in dem stets sich gleichbleibcnden, rasenden Tempo der Fahrt be-
ginnen die Dinge langsam unwirklich und schattenhaft zu werden. —
Es ist still im Kupee und sehr dunkel; eine tastende Hand hat das
störende Licht der kleinen Deckenlampe verbangt, und das Schweigen der
Dunkelheit lastet auf den drei Menschen, nur manchmal unterbrochen
von einem kurzen Flüstern oder einem erstickten Seufzer der Lust. —
Da plötzlick gcsckieht etwas sebr Seltsames, Unerwartetes, etwas,
das diese Stille zerbricht wie eine seine, klirrende Kette. -
mußten zurück, sonst wären sie alle verhungert. Knudsen weinte, als er
Kai zum Abschied küßte. Dann wendeten sie die Schlitten.
Kai stand vor dem Zelt und sah ihnen nach. Sie riefen ihm zu und
winkten. Winkten. Winkten. Im Packeis spielten kobaltblaue und
violenzarte Schalten; wie Smaragde standen die Gletscherriffe im Licht.
Die Welt funkelte um Kai.
Die Winkenden wurden kleiner. Um Kai war eine Erinnerung an
durchgrübelte Nächte und Büchersäle; Geläute von Glocken, weite
Wiesen, Wolken, Alleinfühlung, ätzende Weltironie, Flucht in die war-
men Gründe des Triebes; eine weiche Frauenbruft und schmale, sehr
kühle Hände; an Augen und Wärme, Wärme und schönen Selbstbetrug.
Die Winkenden verschwanden in einer Biegung; — die Erinnerung
versank. Kai hob die Stirne. Was war nur? War das sein Leben? —
Er wußte es nicht mehr; er hatte seine Vergangenheit schon vergessen.
— Er schirrte die Hunde an. Gab ihnen zu fressen. Sah noch einmal
zurück. Da versank auch alles, was um ihn war, er vergaß die Worte
Tod und Leben und Sinn und Zweck, das Vielfältige brach zusammen,
leuchtend stieg seine Ebene auf, jenseits der Worte und der Gefühle.
Und als er nun den Fuß zum ersten Schritt nordwärts hob, der ihn in
den Tod führte, fühlte er in plötzlichem, ungeheurem Aufrausch, daß
dieses mehr sei als alles andere, daß er in diesem Moment begänne, daß
sein ganzes Sein sich erfüllte, daß er in grenzenlosem Ausbrechen weit
über sich hinauSftieß, mitten in das Herz der großen Zusammenhänge
und Welthintcrgründe hinein -; stürzte nicht schon der Himmel in sein
Hirn? — brauste das Meer nicht schon in seinem Blut? — Er riß die
Arme hoch und schritt nach Norden.
FAHRT
N I T A L I U R A
Der Mann beginnt plötzlich laut zu seiner Geliebten zu sprccken;
vielleicht auö Trotz gegen das lastende Sckweigen, vielleicht, weil er die
Frau am Fenster eingeschlafen glaubt. — Seine Stimme ist matt und
scklcppcnd, fast ein wenig traurig, von jener seltsamen, erschütternden
Zärtlichkeit durchbebt, wie sie Männern nur in den Stunden des höchsten
Affektes eigen ist, und verliert sich mit einer rubigen Weichbeit in dem
engen, begrenzten Raum. —
Beim ersten Ton dieser Stimme hat es die Frau am Fenster durch,
zuckt wie ein jäher Scklag; sie fährt lautlos empor und ibre Augen
bohren sich in die Dunkclbeit, aus der diese Stimme kommt, während
sie die Hände krampfhaft wie in langsam erwachendem, ohnmächtigen
Zorn in die Polster wühlt. -
Die Stimme — diese Stimme — in ihren schmerzlich-süßen, seit
Stunden und Tagen restlos geträumten Traum der seltensten Lust
hinein! — Höhnt sie das Schicksal? Narrt die eigene Kraft der Ein-
bildung sic, die sie zum Hüter eines überschwenglickcn Glückes gemacht?
Aber nein! Die Stimme des fremden Mannes — die die Stimme ibrcs
Geliebten ist — gehört >a einer anderen Frau, die »eben ibr sitzt — und die
unsagbar schön sein muß, da sie von - dieser Stimme angebctet wird. —
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schen mager und krank. Es sei sinnlos, nur einen Schritt weiter zu
gehen, denn dann könne man nicht zurück. Es sei setzt schon mehr als
fraglich.
Kai sah ihn lang an. Sagte: „Du hast recht", und ging zu den Schlit-
ten. Schob einen zur Seite. Nahm fünf Hunde und pflockte sie seit-
wärts im Schnee fest. Legte Proviant auf den Schlitten und sagte zu
Knudsen: „Wir sind sechs, haben sechs Schlitten und zwciunddrcisiig
Hunde. Auf einen Mann kommt ein Schlitten mit fünf Hunden. Ist
das recht?" Und als der verständnislos nickte, fragte er: „Ist das dort
auf dem Schlitten zu viel Provianttcil für einen Mann?" Da Knudsen
den Kops schüttelte, sagte Kai, sich schon zurückwendcnd: „Ihr fahrt
morgen früh zurück. Bis zum Depot kommt Ihr, wenn Ihr noch sechs
oder acht Hunde schlachtet und eßt; mit den Lebensmitteln kommt Ihr
bis zur Humboldtbai; da findet Ibr vielleicht Hasen oder Seehunde,
sonst müsit Ibr wieder Hunde schlackten, bis Ihr fünfzig Kilometer vor
Etah seid. Dann schlagt ein Lager auf, kriecht in die Schlassäcke und
schickt Darsak mit den letzten Hunden weiter, damit man Euch von
Etah entsetzt." Und als Knudsen ihn fragend ansah, kurz: „Ich fabre
weiter — "
Davon ließ er sich nicht abbringen, so sehr die andern auch baten,
trotzten, Gewalt anwenden wollten. Er sagte nur, als Knudsen ihm be-
wies, das sei sicherer Tod: „Das weiß ich —." Dann schwieg er und
sah nach Norden.
Am andern Mittag endlich gaben sie es auf, ihn mitzubringen. Sie
NACHT
SKIZZE VON
In einem Kupee des Nachtzuges Wien — Budapest sitzen drei Men-
schen; i» der Fcnstcreckc ein junges Weib, allein, blaß und verträumt in
die dunklen Polster geschmiegt und zwei glückliche Verliebte, anscheinend
eben erst getraut, die es nur als halbe Störung empfinden, daß ihnen
ein so stiller Fabrttcilncbmer in ibrc Zweisamkeit geworfen wurde. —
Die Frau am Fenster kümmert sich nicht um die beiden; sie hat sie
beim Eintreten kaum beachtet und ist froh, sich ihren Gedanken über-
lasten zu können. — Ihre Augen, manchmal von Müdigkeit überwältigt,
öffnen sich immer wieder groß und dunkel den hinreißend schönen, ge-
heimnisvollen Konturen der verblasienten Dämmerung draußen. —
Kühl crsckaucrnd streicht der Nacktwind durck das balboffene Fenster,
und in dem stets sich gleichbleibcnden, rasenden Tempo der Fahrt be-
ginnen die Dinge langsam unwirklich und schattenhaft zu werden. —
Es ist still im Kupee und sehr dunkel; eine tastende Hand hat das
störende Licht der kleinen Deckenlampe verbangt, und das Schweigen der
Dunkelheit lastet auf den drei Menschen, nur manchmal unterbrochen
von einem kurzen Flüstern oder einem erstickten Seufzer der Lust. —
Da plötzlick gcsckieht etwas sebr Seltsames, Unerwartetes, etwas,
das diese Stille zerbricht wie eine seine, klirrende Kette. -
mußten zurück, sonst wären sie alle verhungert. Knudsen weinte, als er
Kai zum Abschied küßte. Dann wendeten sie die Schlitten.
Kai stand vor dem Zelt und sah ihnen nach. Sie riefen ihm zu und
winkten. Winkten. Winkten. Im Packeis spielten kobaltblaue und
violenzarte Schalten; wie Smaragde standen die Gletscherriffe im Licht.
Die Welt funkelte um Kai.
Die Winkenden wurden kleiner. Um Kai war eine Erinnerung an
durchgrübelte Nächte und Büchersäle; Geläute von Glocken, weite
Wiesen, Wolken, Alleinfühlung, ätzende Weltironie, Flucht in die war-
men Gründe des Triebes; eine weiche Frauenbruft und schmale, sehr
kühle Hände; an Augen und Wärme, Wärme und schönen Selbstbetrug.
Die Winkenden verschwanden in einer Biegung; — die Erinnerung
versank. Kai hob die Stirne. Was war nur? War das sein Leben? —
Er wußte es nicht mehr; er hatte seine Vergangenheit schon vergessen.
— Er schirrte die Hunde an. Gab ihnen zu fressen. Sah noch einmal
zurück. Da versank auch alles, was um ihn war, er vergaß die Worte
Tod und Leben und Sinn und Zweck, das Vielfältige brach zusammen,
leuchtend stieg seine Ebene auf, jenseits der Worte und der Gefühle.
Und als er nun den Fuß zum ersten Schritt nordwärts hob, der ihn in
den Tod führte, fühlte er in plötzlichem, ungeheurem Aufrausch, daß
dieses mehr sei als alles andere, daß er in diesem Moment begänne, daß
sein ganzes Sein sich erfüllte, daß er in grenzenlosem Ausbrechen weit
über sich hinauSftieß, mitten in das Herz der großen Zusammenhänge
und Welthintcrgründe hinein -; stürzte nicht schon der Himmel in sein
Hirn? — brauste das Meer nicht schon in seinem Blut? — Er riß die
Arme hoch und schritt nach Norden.
FAHRT
N I T A L I U R A
Der Mann beginnt plötzlich laut zu seiner Geliebten zu sprccken;
vielleicht auö Trotz gegen das lastende Sckweigen, vielleicht, weil er die
Frau am Fenster eingeschlafen glaubt. — Seine Stimme ist matt und
scklcppcnd, fast ein wenig traurig, von jener seltsamen, erschütternden
Zärtlichkeit durchbebt, wie sie Männern nur in den Stunden des höchsten
Affektes eigen ist, und verliert sich mit einer rubigen Weichbeit in dem
engen, begrenzten Raum. —
Beim ersten Ton dieser Stimme hat es die Frau am Fenster durch,
zuckt wie ein jäher Scklag; sie fährt lautlos empor und ibre Augen
bohren sich in die Dunkclbeit, aus der diese Stimme kommt, während
sie die Hände krampfhaft wie in langsam erwachendem, ohnmächtigen
Zorn in die Polster wühlt. -
Die Stimme — diese Stimme — in ihren schmerzlich-süßen, seit
Stunden und Tagen restlos geträumten Traum der seltensten Lust
hinein! — Höhnt sie das Schicksal? Narrt die eigene Kraft der Ein-
bildung sic, die sie zum Hüter eines überschwenglickcn Glückes gemacht?
Aber nein! Die Stimme des fremden Mannes — die die Stimme ibrcs
Geliebten ist — gehört >a einer anderen Frau, die »eben ibr sitzt — und die
unsagbar schön sein muß, da sie von - dieser Stimme angebctet wird. —
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