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Landschaft

Sascha Specht

Augen bei einem Geräusch: der Fremde hatte das Buch aufs Polster
gelegt, um aus der Tasche seiner farbigen Weste einen kleinen Blei-
stift zu holen, einen Patentftift mit kunstreichem Mechanismus, der
ihm die Möglichkeit gab, die Spitze langsam aus der hellgrünen
Hülse herauszudrehen — und auch das tat er mit der Sorgfalt, ja
Pedanterie, die er mit ins Abteil gebracht hatte.

Ein langweiliger Mensch — und da fiel Camillas Blick auf das
Buch, das aufgeschlagen zur bequemen Einsicht vor ihr lag. Zahlen,
Formeln, Figuren: etwas Matbematisches, Technisches vielleicht -
seltsame Reiselektüre. Also wohl ein Ingenieur? Sie maß, mit ge-
schlossenen Augen seine Gestalt. Da war nichts Kühnes, keine strenge
Linie der Kraft und kein Zickzack des Übermuts beherrschter Materie.
Lehrer mochte er sein, Akademieprofessor, Dozent der Hochschule, der
in Brijero einen Vortrag gehalten hatte und nach der Hauptstadt zu-
rückfuhr. Aber vielleicht würde er auch in Amez bereits, hinter der
großen Brücke...

Sie entfloh ihr nicht. Wie denn auch, setzt, wo es nur noch eine
Stunde bis zur Ave sein mochte! Ach, nicht zur Ave, nicht zu dem
Ufer des breiten Stromes! Von ihm aus, wenn man das Dampfboot
nach Donij benutzte, an schönem Frühlingstag, mit strahlenden Men-
schen, umschmettert von den Märschen herzlich schlechter Blechmusi-
kanten, deren Hörner doch auch etwas von der Fanfarenfarbe der
ganzen goldenen Landschaft hatten — von ihm aus, dem sicher tragen-
den Stromriesen, wenn er um den Fels bei Avela biegt: welch einen
überwältigenden Anblick bietet da die Brücke! Gespannt von Berg zu
Berg, ohne stützenden Pfeiler, ein schimmerndes Metallband vor dem
weiten Himmel — und vielleicht hoch oben darübergleitend die win-
zige Kette des Norderpreß...

Aber nun war sie eingespannt in diese Kette, saß in eben diesem
Spielzeugwagen, der von unten, vom Strom bcr so putzig erschienen
war. Sie fubr nicht zum erstenmal über die Brücke, wahrlich nichr!

Seit ihr Vater, kur; nach Eröffnung der neuen Linie vor fünfzehn
Jahren, mit ihr nach Amez gefahren war — wie oft hatte sie seitdem
diesen Weg herüber und hinüber gemacht — und immer mit dem
Gefühl von Angst, das sie damals überwältigt hatte, bei der ersten
Fahrt, und das nicht schwinden wollte. Sie hatte geschrien, sich ge-
gen den Vater gewehrt, der sie ans Fenster hielt, hatte die Augen
mit beiden Händen schmerzhaft fest verdeckt. Später, wenn sie als
junge Dame schon allein gereist war, hatte sie sich auf andere Art
zur Wehr gesetzt, war in den Gang des Wagens getreten und vor-
wärts gelaufen, blind vor der bodenlosen Tiefe da draußen und taub
gegen die ärgerlichen Bemerkungen der Reisenden, die sich im Ge-
nuß des imposanten Schauspieles gestört sahen — immer vorwärts
gelaufen, von Wagen zu Wagen, als gelte es, nur möglichst schnell
von dem bebenden Eisengerüst auf die ruhende Erde zu kommen.

War es denn wirklich Angst, die sie trieb? Sie war doch sonst im
Leben gewiß nicht ängstlich. Schon damals, zu der Zeit, in der sie
nach ihrer Erinnerung zum erstenmal dieses Grauen vor der Brücke
gefühlt hatte, als Zehn- oder Zwölfjährige, schon damals war sie
eine verwegene Radlerin gewesen, die es mit den kecksten Burschen
von Donij ausgenommen hatte. Sie entsann sich noch recht gut jenes
Vormittages, als sie die schmale Gasse vom Schulberg hinunterraste,
in einem durchaus und zumal in dieser Straße verbotenen Tempo
— plötzlich war da die Straße gesperrt, ein Wagen hielt, ein an-
derer, ihr entgegenkommend, mußte ihn genau in dem Augenblick
überholen, wo sie beide erreicht haben würde — und die Gasse ließ
keinen Raum, um zwischen ihnen ungefährdet hindurchzufahren. Sie
konnte nicht mcbr bremsen — oder wollte sie nicht? Gleichviel: sic
war in voller Fabrt abgesprungen, ganz dicht vor den scheuende»
Pferden, überschüttet von Flüchen des Kutschers. Sie hatte gelacht,
ein wenig atemlos, das Rad auf den Bürgersteig gerissen, war auf-
gesessen ... um den Wagen herum ... mit einem lustigen Aufheben

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