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und der Bewegungskonstante, not-
wendigerweise Hervorrufen. Nach
meinen Berechnungen muß dieser
Druck allmählich das Gefüge der
Brücke lockern und den Bestand
des ganzen Bauwerkes bedrohen.

Diese unausgesetzte Minierarbeit,
wie man getrost sagen kann, wird
zwar durch die jährlichen Revisio-
nen und Ausbesserungen paraly-
siert — gut! Aber eine unver-
meidliche Katastrophe haben wir,
wenn es dem Führer eines Zuges
jenials nicht gelingen sollte, den
Zug rechtzeitig und vorschrifts-
mäßig zu bremsen. Sie kennen die
Brücke, Madame? Nun so wer-
den Sie sich erinnern, daß der
Zug vor der Einfahrt sein Tempo
verringert, und das nicht nur m
dem üblichen Maß — jede Brücke
wird ja in verlangsamter Fahrt
genommen, um das Bauwerk
weniger zu erschüttern. Gelingt
cs also nicht, diese hier recht be-
deutende Verringerung der Ge-
schwindigkeit herbeizuführen —
sebr möglich, wie mir scheint, da
die Strecke kurz zuvor ein Ge-
fälle von immerhin eins zu zwei-
undachtzig hat — dann ist die
Katastrophe da."

Er sagte das alles ganz ruhig
und langsam, in einer nüchternen
Sachlichkeit, die wie tausend feine
Nadeln in Camillas gequältes
Hirn stach. Sie fühlte den
Schmerz unter dem blonden Haar,
in den Poren der dunkelbraunen
Haut. Dieser trockene Ton eines
Menschen, mit dem sie nichts ver-
band, der ihr vom ersten Augenblick an gleichgültig gewesen war,
dieser Ton, der wir aus einer Sprechmaschine kam, unaufhörlich,
weil man keine Macht über die Maschine hat, lähmte sie, war in
seinem kalten, klappernden Fall furchtbarer als der feurige Anhauch
eines glühenden Dämons. Als sie sich endlich zwang, gegen seine
Zahlen und Daten zu revoltieren, waren es nur armselige Worte,
die sie hervorbrachtc.

„Aber Sie fahren doch selbst hinüber?"

Sic fühlte beschämt den verräterischen Klang der Worte, wollte
mehr sagen und brachte doch keine Silbe mehr über die trockenen
Lippen.

Der Fremde blieb sachlich. „Natürlich fahre ich hinüber, wenn
auch gerade bis Amez. Und ich fahre sehr oft hinüber. Warum auch
nicht? Es sind über diese Brücke. .. einfache Schätzung: in fünf-
zehn Jahren zu 369 Tagen ... wenn wir für den Tagesdurchschnitt
nur sechzehn Züge ansetzen . .. Nun, rechnen Sie selbst, es ist keine
ganz kleine Zahl, die sich da ergibt. Die Brücke muß stürzen, irgend
einmal; und ich fahre heute. Das ist alles. Und das ist etwas sehr
Alltägliches. Eine Maschine wird notwendigerweise versagen, irgend
einmal; aber heute läuft sie. Ihr Herz — pardon, ich habe kein
Recht, darauf zu exemplifizieren. Ein Herz also, meines, das Herz
überhaupt muß aussetzen, irgend einmal — und vielleicht ist ein
Arzt da, der die Rechnung genau so sicher kennt, wie ich die Rech-
nung der Brücke; aber das Herz pocht noch, heute. Übrigens" — er
fuhr ein wenig schneller fort, als sei er sich selbst der Fragwürdigkeit
seiner Vergleiche bewußt und wolle rasch darüber hingehen —
„übrigens liegt die Sache bei der Avebrücke ja so, daß nur die Züge,

die wie der unsere von Norden
kommen, die Katastrophe herbei-
führen können, nicht wahr? Und
somit müssen wir unsere Wahr-
scheinlichkcitSziffer durch zwei divi-
dieren, können die Hälfte dem
Schicksal mit gutem Grund ent-
reißen und die neue kleinere Zahl
unserem Gefühl, das Katastrophen
scheut, als minder furchtbare
Gabe unseres aufmerksamen Kal-
küls präsentieren. Nicht wahr,
Sie begreifen, nur hier im Nor-
den ist vor der Brücke, und über-
dies bei einem gewissen Gefälle,
diese kleine heimtückische Kurve. .
Aber das erwähnte ich ja schon!"

Diese letzten Worte sagte er in
einem halb entschuldigenden, halb
beschwichtigenden Ton, veranlaßt
durch Camillas heftige Bewe-
gung.

Sie hatte sich zusammengerissen

— ja, im eigentlichen Sinn: mit
kurzem Ruck hatte sie den Wille»
eingeschaltet, hatte wieder Gewalt
über Glieder und Gedanken, oder
suchte sie doch und setzte sich zur
Wehr. Sie sagte nichts, stand nur
auf, legte ganz gewohnheitsmäßig,
mit dem ruhigen Griff, der
Steuer und Hebel zu handhaben
wußte, die Rechte auf den Mes
singbügel am oberen Fensterrah-
men, packte mit der linken Hand
den Gurt, öffnete mit kurzem An-
heben und ließ die Scheibe ohne
Hast niedergleiten.

Kalte Nacht wehte ihr entge-
gen und gleich darauf ein Pfiff

— die Bremsen zogen an.
Camilla krampste die Hände um den filzbesetzten Fensterrand. Sie
fühlte den nahenden Schwindel, lehnte sich über die Scheibe, dachte:
Herumdrehen, ihm ins Gesicht sagen, daß er faselt, daß er ein Wich-
tigtuer ist, daß es diese Kurve nicht gibt... gegen ihn angehen,
etwas tun, steuern, steuern. .. ! Aber sie war zu matt, war gebun-
den, behext, verfallen — dem schon dunkel und hohl donnernden
Brückenton.

Schaukelte, schwankte der Wagen nicht? Seekrankheit überwäl-
tigte sie. Aber während ihr leerer Magen sich selbst aus dem Leib
zu heben schien, mit sich reißend das jagende Herz, sah sie, durch das
vorüberwellende Gitterwerk des Brückenbogens, tief unten den mond-
beglänzten Spiegel des breiten Stromes, und in einer unwahr-
scheinlichen Klarheit, am User ein kleines Haus mit erleuchtetem
Fenster.

Dann war es vorüber. Die Brücke schon weit dahinten.

Die Maschine ihrer Hände schloß das Fenster, sie sank ins Polster
zurück und sah mit letztem Blick, daß der Fremde sein Buch wieder
ausgenommen hatte und las. War er verstimmt über ihr Benehmen,
das ibn glauben machen konnte, er habe sie durch unerwünschte Au
rede verletzt? Aber nichts in dem runden, gleichförmigen Gesicht
verriet solche Regung. Und sie konnte nicht mehr aufsehen, so müde,
so völlig erschöpft war sie — und so sehr schämte sie sich über ein
Gefühl, das sie sich vergeblich wegleugnen wollte: vorbei die Brücke,
vorbei die Brücke... ich lebe ... ich lebe... !

In Amez, kurz nach l Uhr, verließ der Fremde, artig grüßend
das Abteil. Camilla hatte, bei geschlossenen Lidern, wahrgenommen,
wie er kurz zuvor sich rüstete: das Buch einsteckte, die Mütze abzog

Aus Nürnberg Hans Hoof

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Hans Hoof: Aus Nürnberg
 
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