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Pappendeckels aus dem Kopfe des Direktors Klebstoff zu löschen sei.
— Dringlich^ ausgezeichnete Beziehungen zu dem sozialdemokrati-
schen Abgeordnetn Bellina ermöglichten es ihm, unverzüglich eine
Interpellation im Abgeordnetenhaus einbringen zu lassen. Bellina,
der stets darauf aus war, sich und seinen Anhang mit irgendeiner
Berufsklasse solidarisch zu erklären, sah in diesem Vorgehen einer
Poftdirektion eine flagrante Verletzung der dem Verbände der
staatlichen Ruheständler seinerzeit feierlich gemachten Zusicherung deö
Nullstundentages und fragte, was die Regierung gedenke. Diese ver-
sprach die rascheste Untersuchung des Falles, was sie aber dann ant-
wortete, war ausgesprochener Zündstoff. Sie stellte die Sache so
dar, als habe I. die bezogene Poftdirektion es dem Oberoffizial
Pappendeckel vollkommen anbeimgestellt, wann und ob überhaupt er
eine Auskunft erteilen wolle, was schon aus der ungewöhnlichen
Mögeform des Schreibens hervorgehe, und als habe es sich 2. bei
der seinerzeitigen Unterredung Pappendeckels mit einer Partei durch
das Schalterfenfter um eine solche gehandelt, deren Inhalt er,
Pappendeckel, sofort Höherenorts bekanntzugeben verpflichtet gewesen
wäre. Da er, Pappendeckel, dies unterlassen habe, wäre die Post-
direktion sogar berechtigt gewesen, ihn trotz mittlerweile eingetrete-
nem Ruhestand zur Nachtragung des im Aktivitätsverhältnis began-
genen Versäumnisses imperativ zu verhalten. Die Postdirektion habe
dies, wie gesagt, nicht getan, sondern sich darauf beschränkt, eine in
nahezu gesellschaftlichen Formen gehaltene Einladung an Pappen-
deckel hinauszugeben. Die Regierung weise daher den Vorwurf, dasi
es sich hier um eine Durchbrechung des zugesicherten Nullstundentag-
prinzipes handle, entschieden zurück.

Als Dringlich, welcher der Sitzung des Abgeordnetenhauses auf
der Gallerie beigewohnt hatte, diese ungeheuerliche Regierungsant-
wort vernahm, sah er sein Lebenswerk ernstlich bedroht. Jetzt, da er
eben dabei war, das Prinzip des NullstundentageS in alle europä-
ischen Staaten zu tragen, da sogar Amerika diese Bewegung mit
Interesse zu verfolgen begann, fiel ihm die heimatliche Regierung
in den Rücken. Er fühlte, wie seine Schultern herabsanken unter
der Last der Verantwortung, die es nun zu tragen galt, aber er war
der richtige Mann, den bevorstehenden Kampf bis zum äußersten
durchzuhallen. In den Wandelgängen des Abgeordnetenhauses be-
sprach er mit Bellina die einzuschlagenden Wege und konnte sich bei
dieser Gelegenheit davon überzeugen, daß, wie es nicht anders zu
erwarten war, im Notfälle die
gesamte organisierte Arbeiter-
schaft hinter ihm stehen werde.

In diesen Wandelgängen war
es auch, wo, von keinem ge-
wollt, durch die Wucht der
Tatsachen hervorgerufen, zum
erstenmal das Wort fiel:

Streik der Ruheständler.

Dringlich berief zunächst
eine Vollversammlung des
Verbandes ein, um über den
Stand der Angelegenheit Be-
richt zu erstatten. Äußerlich
ruhig, nur ein wenig bleicher
als sonst, nahm er seinen
Platz ein, über ihm flammten
die goldenen Lettern an der
Wand: „A Rua möcht ma
dam". Pappendeckel war nickt
erschienen, sondern hatte es
vorgezogen, ein Rechtferti
gungsfchreiben zu verfassen,
in welchem es von AuSdrük-
ken wie „immerhin hohe
Ebre", „nachträgliche, refler-
artige Auswirkung des Pflicht-
gefühls". „zufällig vorbeiqe-
kommen" usw. wimmelte. Je-

der wußte noch vor Eröffnung der Sitzung, daß Pappendeckel ein
erledigter Mann sei, Friede seiner Asche. Nach einer kurzen Be-
grüßungsansprache ging Dringlich sofort auf den Kern der Sache
los. Das war so seine Art, nicht herumzufackeln, nicht rechts und
links schauen, immer geradeaus, wenn es sein muß mit der Stirn
durch die Wand. Eine vollkommene Kampfnatur. Man mußte
staunen, welche Fülle, welcher Überfluß von Klassenbewußtsein in
ihm aufgespeichert war, trotzdem er erst knappe achtzehn Monate
dem Ruhestand angehörte. Da zeigte es sich wieder einmal, daß
Vollnaturen sich nicht erst entwickeln, sondern daß sie ganz einfach
sind. Dringlich war eine solche Vollnatur, er war die ideale Ver-
körperung des Nullstundentages und wenn man diesen angriff, so
griff man ihn an. Es handle sich hier um ein Prinzip, sagte er,
und jedem Prinzip müsse eine Wahrheit zugrunde liegen. Wir fin-
den es selbstverständlich, die Wahrheit als ewig anzusprechen, als
unvergänglichen Wert, an dem wir nicht rütteln dürfen, wenn nicht
alle staatlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fundamente
ins Wanken geraten sollen. Wie aber sei eö mit den Prinzipien?
Sie sind, wie gesagt, aus Wahrheiten hervorgegangen, sie sind, wenn
man sich so ausdrücken dürfe, Kinder der Wahrheit. Es sei ein Ver-
brechen am Staate, ein Verbrechen an der Gesellschaft, ein Ver-
brechen an der Gesamtheit der Wissenschaften, ein einmal als solches
erkanntes und anerkanntes Prinzip zu verleugnen. Jeder würde da-
vor zurückschrecken, eine solche Vielgeftalt von Verbrechen zu be-
gehen, nur jemand schrecke nicht davor zurück, das sei die Regierung
(Pfui). Daher sei es Pflicht aller, die das Prinzip des Nullstunden-
tageS Hochhalten, mit den schärfsten Mitteln dessen Unverletzlichkeit zu
verteidigen, denn wenn eS einmal durchlocht sei, wie es im Falle
Pappendeckel (Pfui) durchlocht wurde, dann gebe eS keine Grenzen
mehr für die Größe dieses Loches. Er, Dringlich, habe alles erwo-
gen und wenn die Regierung (Pfui) die Forderung des Verbandes,
die leider geschehene Aussage Pappendeckels (Pfui) aus dem Ge-
dächtnis des Poftdirektors Klebstoff zu löschen und ein neuerliches
Bekenntnis zum Nullstundentag der Ruheständler abzulegen, nickt
erfüllen sollte, dann gebe es nur einen Weg, der schweren aber
festen Herzens beschritten werden müsse, den Streik.

Zwei Tage später war der Streik eine beschlossene Sache. Nach
Dringlich'ö Weisungen, der, von Bellina unterstützt, mit über-
menschlicher Arbeitskraft ein vollkommenes Streikprogramm auöge-

arbeitet hatte, fanden sich bei
Beginn des Streiks sämtliche
Ruheständler in ihren frühe-
ren Ämtern ein und nahmen
dort die Arbeit wieder auf.
Sie arbeiteten, wie sie nie in
ihrem Leben gearbeitet hatten,
mit fanatischer Hingabe an
die Sache. Da ihre Schreib-
tischplätze in der Zwischenzeit
anderweitig besetzt worden
waren, fehlte es vielfach an
geeigneten Plätzen, aber die
Streikenden nahmen gern das
Opfer auf sich, im Notfall«
ihre Arbeiten auch stellend zu
verrichten, wobei ihnen Wasch-
tische, Kleiderständer, Ofen
usw. als Unterlagen dienten.
Am ersten Streiktage kam es
da und dort zu kleinen Kon-
flikten mit aktiven Kollege»,
die diese Gelegenheit benützen
wollten, um selbst dem Müßig-
gang zu fröhnen, so daß
Dringlich sich genötigt sah, sie
in einem geharnischte» Pro-
test als Streikbrecher zu brand-
marken und ihnen die Ver-

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Register
Albert Rabenbauer: Minne
 
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