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DIE FREUNDIN

VON PAULRICHARD HENSEL (STEGLITZ)

Das waren Sommerlage, die Freude und Singen
brachten, Vergessen und Sorglosigkeit. Wie ein
reicher Segen blühten die Tage den beiden Men-
schen auf, die in Wanderlust und Naturanbetung
am Fuß des Gebirges gestanden hatten:

„Wollen wir die Berge zwingen, Kamerad?"

„Gern wollen wir!"

Und dann waren sie aufgebrochen, der Maler
Hannes Roller und die junge Lilith Abel, jeder einen
Rucksack auf dem Rücken, einen Stecken in der
Hand und das Gefühl froher Erwartung im Her-
zen. Sie hatten sich lange auf ten Ausflug gefreut,
der sie zum gemeinsamen Genuß unbekannter Natur-
schönheilen führen sollte, wie sie es bisher gewohnt
waren, gemeinsam zu genießen, was dem einen
Freude machte. Und was die Stunden, die sie zu-
sammen erlebten, froh machte und ihnen einen un-
gewöhnlichen Reiz verlieh, gestand sich oft nicht nur
das blonde Mädchen, sondern auch der ehrgeizige
und ernste Maler ein: ihr Verstehen und Erleben
entstand aus einer Freundschaft, die noch nie durch
ein Wort der Liebe entstellt worden war. Das gab
ihnen auch die Kraft, dem Alleinsein einer mehr-
tägigen Reise ohne die Spannung entgegen zu sehen,
die immer ist, wenn der andere Gefühl und Sinne
mehr beansprucht als die Welt, die beide gleich-
mäßig umfängt.

Rechtschaffen müde machten sie am ersten Abend
in einem Gasthofe Rast. Als Hannes das Frem-
denbuch vorgelegt wurde, lächelte er Lilith an.

„Was soll ich schreiben?"

Sie schaute ihm klar in die Augen und lachte:
„Schreib: Ein Freund mit seiner Freundin — oder
nein, das geht ja die anderen nichts an. Schreibe
nur unsere Namen."

Eine halbe Stunde standen sie noch vor der Tür
des kleinen Hauses und hörten auf das Zirpen der
Grillen und das Rauschen des Wildbaches. Dann
gab Lilith dem Manne die Hand:

„Gute Nacht, Kamerad!"

„Gute Nacht," sagte er, „morgen um fünf Uhr
klopfe ich an Deiner Türe!" —

Der Nebel lag noch auf den Hängen des Gebirges,
als die beiden schon rüstig auSschritten. Langsam
kämpfte sich die Sonne durch das Gewölk und legte
goldne Linien um das dunkle Knieholz. Am Mittag
lud eine Wiese zur Ruhe ein. Lilith lag langgestreckt
auf der Erde und hatte die Arme unter den Kopf
gelegt. Hannes breitete die Vorräte ans dem Ruck-
sack aus.

„Bist Du glücklich?" fragte Lilith.

„Ja," sagte der Maler und schaute in die sonnen-
beschienene Gegend. „Denn glücklich ist man am
meisten, wenn man die Welt ganz vergessen hat. Was
sehen wir noch von der Welt? Gibt es denn hier noch
Menschen? Sind wir nicht wie zwei Einsiedler?"

Lilith lächelte fein. „Die Welt würde vielleicht
auch sehr die Nase rümpfen, wenn sie die beiden Ein-
siedler sähe. Wie gut, daß ich nicht bange vor Dir
zu sein brauche, Hannes!"

„Du bange vor mir, Lilith? Das müßte doch eher

mir geschehen, denn Du bist jung und schön — sehr
schön — "

„Würdest Du mit einem häßlichen Kameraden
wandern?"

„Nein, Lilith, dann müßte ich kein Maler sein "

Lilith richtete sich auf und streckte ihm die Arme
entgegen:

„Wir wollen uns treu bleiben, ja? ..."

*

Und der Nachmittag kam, und die Dämmerung,
und wieder ein Abend. Und auf den Abend kam eine
stille, warme Sommernacht, in der Hannes am of-
fenen Fenster stand, denn die Lust im Zimmer be-
drückte ihn. Leise trat er auf den Balkon, der sich
über die ganze Länge des Hauses zog. Das Wandern
hatte ihn müde gemacht, aber trotzdem ging sein Blut
schnelleren Schlag. Vielleicht war das die Stille
des Abends, die Sehnsucht, die in den schlafenden
Büschen hing, — vielleicht war es auch, weil am
anderen Ende des Balkons die Tür zu Liliths
Zimmer war.

Da war ein leiser Schritt hinter ihm und eine
verwunderte Frage:

„Schläfst Du nicht, Kamerad?"

Er wandte sich rasch um und sah in Liliths weißes
Gesicht.

„Es ist so warm im Zimmer. Irgendetwas lockte
mich."

„Auch mich, Hannes. Wollen wir hierbleiben?"

1924 / J U G E N D Nr. 19 • Bei etwaigen Bestellungen bittet man auf die Münchner „Jugend“ Bezugzunehmen

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Paulrichard Hensel: Die Freundin
 
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