LIED VOM LEBEN
Herr, ich bin meinem Fleische ergeben,
Lieg gern bei meiner Frauen,
Mag mich gern am vollen Humpen erbauen,
Hab keine Hand, Herr, an der die Heller kleben.
Ich sehe die grimme Not um mich her - wohl.
Sie ist in meinem Becher Weines der unerbittliche Rest.
Aber dennoch ist mir jede volle Stunde Lebens «in Fest.
Auch Du lassest Deinen Äquator glühen, Herr, zwischen Pol und Pol.
Ich habe manchen Bettler von meiner Armut fürstlich gespeist,
Hab ihm nicht nur billig mein Sehnen
Auf Papier geschrieben, dazu meine Tränen —
Aber, Herr, ohne Freude bin ich verwaist.
Gott, Du bist die Freude tiefinnen.
Wenn es anders ist, Herr, heb' mich von hinnen,
Wer Du auch seist!
Hermann Claudius
Gesellschaften und Freunde. Es war alles — nein, sehen Sie, da
verläßt mich schon mein. Gedächtnis. Ich erlitt einen schweren Un-
fall, mit unserem Auto. Viele Wochen lag ich ohne Besinnung.
Als ich zum Leben zurückfand, war mir alles fremd. Aber ganz in
eine neue Bahn trat ich erst, als ich erfuhr, daß mich mein Mann
betrogen hatte. Sie lächeln vielleicht darüber und denken: Wieviel
Liebelei gleitet unsichtbar zwischen den Polen einer Ehe! Und mein
Herz hätte gewiß auch dieses überbrückt. Aber der Verstand stritt
dagegen. Ich dachte an unseren Anfang, an das langsame Aufbauen
unserer Liebe — ich stand erschüttert vor der Möglichkeit, daß das
Heiligtum zweier Menschen durch eine Banalität eingerissen werden
kann - ich dachte weiter, nicht an mich, sondern an alle, die lieben,
ich dachte, welchen Sinn hat es noch, zu versprechen, zu glauben,
zu hoffen, wenn es möglich ist, - verstehen Sie, die Möglichkeit
allein schon - daß alles Täuschung ist. Ich wühlte mich in dieses
Leid hinein, begrub mich darin, vergaß alles Andere; jeden Tag fand
ich neue Gedanken, die sich in die Kette fügten. Allmählich gewann
ich Gewalt über dies Leid - es machte mir fast Freude, daß ich
solches erleben durfte - Liebe war trotz Allem der Ursprung. Wie
zum Leben Anderer ein Haus, ein Kind, Arbeit gehört, gehört zu mir
Badende Frauen
Carl Schwalbach
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Herr, ich bin meinem Fleische ergeben,
Lieg gern bei meiner Frauen,
Mag mich gern am vollen Humpen erbauen,
Hab keine Hand, Herr, an der die Heller kleben.
Ich sehe die grimme Not um mich her - wohl.
Sie ist in meinem Becher Weines der unerbittliche Rest.
Aber dennoch ist mir jede volle Stunde Lebens «in Fest.
Auch Du lassest Deinen Äquator glühen, Herr, zwischen Pol und Pol.
Ich habe manchen Bettler von meiner Armut fürstlich gespeist,
Hab ihm nicht nur billig mein Sehnen
Auf Papier geschrieben, dazu meine Tränen —
Aber, Herr, ohne Freude bin ich verwaist.
Gott, Du bist die Freude tiefinnen.
Wenn es anders ist, Herr, heb' mich von hinnen,
Wer Du auch seist!
Hermann Claudius
Gesellschaften und Freunde. Es war alles — nein, sehen Sie, da
verläßt mich schon mein. Gedächtnis. Ich erlitt einen schweren Un-
fall, mit unserem Auto. Viele Wochen lag ich ohne Besinnung.
Als ich zum Leben zurückfand, war mir alles fremd. Aber ganz in
eine neue Bahn trat ich erst, als ich erfuhr, daß mich mein Mann
betrogen hatte. Sie lächeln vielleicht darüber und denken: Wieviel
Liebelei gleitet unsichtbar zwischen den Polen einer Ehe! Und mein
Herz hätte gewiß auch dieses überbrückt. Aber der Verstand stritt
dagegen. Ich dachte an unseren Anfang, an das langsame Aufbauen
unserer Liebe — ich stand erschüttert vor der Möglichkeit, daß das
Heiligtum zweier Menschen durch eine Banalität eingerissen werden
kann - ich dachte weiter, nicht an mich, sondern an alle, die lieben,
ich dachte, welchen Sinn hat es noch, zu versprechen, zu glauben,
zu hoffen, wenn es möglich ist, - verstehen Sie, die Möglichkeit
allein schon - daß alles Täuschung ist. Ich wühlte mich in dieses
Leid hinein, begrub mich darin, vergaß alles Andere; jeden Tag fand
ich neue Gedanken, die sich in die Kette fügten. Allmählich gewann
ich Gewalt über dies Leid - es machte mir fast Freude, daß ich
solches erleben durfte - Liebe war trotz Allem der Ursprung. Wie
zum Leben Anderer ein Haus, ein Kind, Arbeit gehört, gehört zu mir
Badende Frauen
Carl Schwalbach
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