Nächtliche Begegnung
Leidlein
DER“ GRAMMOPHON
EINE BETRÜBLICHE GESCHICHTE VON KARL KINNE»T
Nein, es war nicht nur eine flüchtige Neigung, kein leichtsinniges
Getändel, keine EintagSliebe! Ich habe Hildegard sehr geliebt und
tief-leidenschaftlich begehrt — wochenlang. Fast zwei Wochen lang.
Obwohl ich mir nach einem Leben voller Enttäuschung geschworen
habe, nie lange zu warten —: weder auf die Liebe von Frauen noch
auf das Steigen von Aktien. Es hat keinen Sinn.
Sie hieß Hildegard —: ist das nicht ein entzückender Name?
Blond war sie — 18 karätig-goldblond — aus sehr guter Familie —
und trotzdem äußerst reizvoll. Es war eine Atmosphäre von Unan-
tastbarkeit um sie, die jeden zurückschreckte. Auch ich wagte nicht mein
heißes Begehren zu äußern — nicht einmal mit Blicken. Ich ging
um sie herum wie die Katze um den heißen Brei, denn sie war kalt —
ja, eisig, sobald sie den Versuch einer Annäherung witterte. Aber
gerade diese abwehrende Kälte ließ meine Leidenschaft immer glühen-
der werden — bis eines Tages ganz unvermutet die eisige Hülle
schmolz —: kurzum, Hildegard kam zu mir. Nachmittags natürlich
— weil sie gerade an meiner Wohnung vorbeikam — und nur, um
mich zu einem Spaziergang abzuholen. Aber da der Tee gerade nicht
fertig war, mußte er bereitet werden - und so blieb sie ein bißchen.
Das erste ist immer dieser scheinbar nachlässig-umherschweifende,
in Wahrheit aber blitzschnell und witternd prüfende Blick durch's
Zimmer — über Bilder, Schreibtisch und die „gemütliche Ecke" (die
deshalb nie allzu gemütlich aussehen darf). Und dann muß irgend
etwas herhalten, um der Dame ihre — durch den gewagten Schritt
erschütterte Sicherheit wiederzugeben und die allzusehr gesteigerte
Sicherheit des Mannes zu erschüttern. Hildegards Augen blieben zu
diesem Zweck an einem Grammophon haften: „Ach, was haben Sie
da für einen schönen Grammophon!" sagte sie nähertretend.
Meine Freunde behaupten, in mir sei außer dem Kinde — wie
in jedem echten Mann — auch ein Schulmeister versteckt. Ich sagte:
„Ja, das Grammophon ist leidlich. Wollen Sie es hören?"
„Ja, lassen Sie ihn spielen," sagte Hildegard.
— — Wenn eine Frau die Wohnung eines Mannes betritt, von
dem sie weiß, daß sie ihm nicht gleichgültig ist, so sind von den „zehn
Schritten vom Leib" neun schon freigegeben. Der letzte Schritt aber,
der den „Fehltritt" der Frau vorausseht, ist der gefährlichste —:
er verlangt Sicherheit und Takt, sonst kann gerade er leicht der eine
bekannte Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen werden — -
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Leidlein
DER“ GRAMMOPHON
EINE BETRÜBLICHE GESCHICHTE VON KARL KINNE»T
Nein, es war nicht nur eine flüchtige Neigung, kein leichtsinniges
Getändel, keine EintagSliebe! Ich habe Hildegard sehr geliebt und
tief-leidenschaftlich begehrt — wochenlang. Fast zwei Wochen lang.
Obwohl ich mir nach einem Leben voller Enttäuschung geschworen
habe, nie lange zu warten —: weder auf die Liebe von Frauen noch
auf das Steigen von Aktien. Es hat keinen Sinn.
Sie hieß Hildegard —: ist das nicht ein entzückender Name?
Blond war sie — 18 karätig-goldblond — aus sehr guter Familie —
und trotzdem äußerst reizvoll. Es war eine Atmosphäre von Unan-
tastbarkeit um sie, die jeden zurückschreckte. Auch ich wagte nicht mein
heißes Begehren zu äußern — nicht einmal mit Blicken. Ich ging
um sie herum wie die Katze um den heißen Brei, denn sie war kalt —
ja, eisig, sobald sie den Versuch einer Annäherung witterte. Aber
gerade diese abwehrende Kälte ließ meine Leidenschaft immer glühen-
der werden — bis eines Tages ganz unvermutet die eisige Hülle
schmolz —: kurzum, Hildegard kam zu mir. Nachmittags natürlich
— weil sie gerade an meiner Wohnung vorbeikam — und nur, um
mich zu einem Spaziergang abzuholen. Aber da der Tee gerade nicht
fertig war, mußte er bereitet werden - und so blieb sie ein bißchen.
Das erste ist immer dieser scheinbar nachlässig-umherschweifende,
in Wahrheit aber blitzschnell und witternd prüfende Blick durch's
Zimmer — über Bilder, Schreibtisch und die „gemütliche Ecke" (die
deshalb nie allzu gemütlich aussehen darf). Und dann muß irgend
etwas herhalten, um der Dame ihre — durch den gewagten Schritt
erschütterte Sicherheit wiederzugeben und die allzusehr gesteigerte
Sicherheit des Mannes zu erschüttern. Hildegards Augen blieben zu
diesem Zweck an einem Grammophon haften: „Ach, was haben Sie
da für einen schönen Grammophon!" sagte sie nähertretend.
Meine Freunde behaupten, in mir sei außer dem Kinde — wie
in jedem echten Mann — auch ein Schulmeister versteckt. Ich sagte:
„Ja, das Grammophon ist leidlich. Wollen Sie es hören?"
„Ja, lassen Sie ihn spielen," sagte Hildegard.
— — Wenn eine Frau die Wohnung eines Mannes betritt, von
dem sie weiß, daß sie ihm nicht gleichgültig ist, so sind von den „zehn
Schritten vom Leib" neun schon freigegeben. Der letzte Schritt aber,
der den „Fehltritt" der Frau vorausseht, ist der gefährlichste —:
er verlangt Sicherheit und Takt, sonst kann gerade er leicht der eine
bekannte Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen werden — -
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