Verschneite Almhütten
Edwin Henel
ein, aber nach 450 Metern ftand er fest und sicher auf dem Boden.
Man umringte ihn sogleich; Verblüffung, Scheu, Zurückhaltung wie
beim ersten Sprung gab es jetzt nicht. Er war ja — in dieser schnell-
lebigen Zeit! — sozusagen ein alter Bekannter!
Es war ein Mensch wie die meisten, die ihn umringten; er hatte
einen richtigen Kopf auf den Schultern sitzen, er sprach deutsch, mit
bayrisch-tiroler Klangfarbe, er steckte sich eine kurze Pfeife an und
lachte über das ganze wettergebräunte schmale Raubvogelgesicht. Ein
wenig wich er aber doch ab im Körperbau der übrigen: Er hatte
Schuh Nummer 65 und an den Armen waren ihm richtige Flügel
gewachsen. Er hob die Flügelarme und streckte sie horizontal aus.
Ein Wildschütz aus der Lemasch taxierte: „Zwoa Meter zwanzg san
f g'wiß! Ehnder mehra!"
Und dann erzählte er, daß er mit Weib und 9 Kindern in einer
Höhle des hinteren Karwendel hause, daß er das ganze Jahr die
Schwartlinge nicht von den Füßen bringe und daß er bedauere, nicht
um das Jahr 1925 herum gelebt zu haben. Denn damals habe
man doch, wenn die Geschichte richtig berichte, nur 11 Monate im
Iabre Winter gehabt, und jetzt seien es, wie allen schauerlich be-
kannt, ganze zwölf!
Ob er immer diese Flügel gehabt habe, wurde gefragt.
Freilich, und der Vater und der Großpapa auch. Die Kinder
kämen nackt auf die Welt, wie ein Sperber-Küken, aber nach einem
Jahre zeige sich schon der erste Flaum und mit vier Jahren flögen
sie schon nach Innsbruck und holten für den Vater den guten öster-
reichischen Landtabak. Geschwärzten natürlich, denn das brave Andreas
Hofer-Landl ist ja — Gott bessere es! immer noch nicht mit uns ver-
bunden. „Jetzt behüt' Euch Gott mit einand; i muß heim in s Nest!"
Er breitete die mächtigen, auf der Unterseite weißblau schimmern-
den Flügel aus; der Papagei versuchte keck eine Feder herauszurup-
'V
fen, doch sie saß fest wie ein Pfeil mit Widerhaken.
„Bitte, wie heißen Sie?" rief der „B. Z. u. M."-Mann
mit gezücktem Bleistift noch hinauf, als er schon fünfzig Meter hoch
schwebte. Aber es kam keine Antwort herunter.
Kopfschüttelnd zerstreute man sich.
In der „B. Z. u. M." stand anderen Tags folgendes:
Enok der Ski-Springer
(Blitzfunktelegr. unseres G.E.L.-Korrespondenten aus Mittenwald.)
Was die Menschen seit dem Hinauswurf aus dem Paradiese mit
heißer Seele immer wieder erstrebt haben, hier in der idyllischen
Karwendel-Siedelung Mittenwald (volle Pension 35 Mk. im Tag)
ist's schillerndes Ereignis geworden: Der Mensch fliegt! Nicht mit
Flugzeug oder Z. 20 410, nein, mit wirklichen Vogelflügeln.
Spannweite, wie ich nachgemeffen habe, 3,5 Meter. Ihr Korrespon-
dent hatte —als einziger unter 50 Konkurrenten — die Ehre, den
seltenen Vogel interviewen zu dürfen. Er heißt Enok, die Ein-
heimischen rufen ihn Enokerl, haust mit drei Frauen und 27 Kindern
in einer eiökriftallenen Höhle in rund 2500 Meter Höhe, nährt sich
von Körnern, jungen Gemsen und Murmeltieren, verschmäht jedoch
auch eine Bachforelle und ein Adler-Filet nicht. Er ist überhaupt
ein munterer Bursche. Hat den Weltrekord im Ski-Sprung auf
650 Meter hinaufgetrieben, natürlich außer Konkurrenz. Schuh-
Nummer 75. Anpassung der Natur an den Ski. Raucht geschwärz-
ten österreichischen Landtabak, wird in der Luft oft von dem hierorts
seltenen Lämmergeier attackiert; Narben von Schnabelhieben auf
Brust und Rücken.
O, Dädalos und Ikaros! Wenn Ihr das erlebt hättet!
(Nachschrift der Redaktion: Die Nachricht würde unglaublich klingen, wenn
unser Korrespondent nicht per Funkpaketpoft eine Feder von Enok geschickt
hätte. Wir stellen sie ab heute in unserm Auslagefenster aus).
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Edwin Henel
ein, aber nach 450 Metern ftand er fest und sicher auf dem Boden.
Man umringte ihn sogleich; Verblüffung, Scheu, Zurückhaltung wie
beim ersten Sprung gab es jetzt nicht. Er war ja — in dieser schnell-
lebigen Zeit! — sozusagen ein alter Bekannter!
Es war ein Mensch wie die meisten, die ihn umringten; er hatte
einen richtigen Kopf auf den Schultern sitzen, er sprach deutsch, mit
bayrisch-tiroler Klangfarbe, er steckte sich eine kurze Pfeife an und
lachte über das ganze wettergebräunte schmale Raubvogelgesicht. Ein
wenig wich er aber doch ab im Körperbau der übrigen: Er hatte
Schuh Nummer 65 und an den Armen waren ihm richtige Flügel
gewachsen. Er hob die Flügelarme und streckte sie horizontal aus.
Ein Wildschütz aus der Lemasch taxierte: „Zwoa Meter zwanzg san
f g'wiß! Ehnder mehra!"
Und dann erzählte er, daß er mit Weib und 9 Kindern in einer
Höhle des hinteren Karwendel hause, daß er das ganze Jahr die
Schwartlinge nicht von den Füßen bringe und daß er bedauere, nicht
um das Jahr 1925 herum gelebt zu haben. Denn damals habe
man doch, wenn die Geschichte richtig berichte, nur 11 Monate im
Iabre Winter gehabt, und jetzt seien es, wie allen schauerlich be-
kannt, ganze zwölf!
Ob er immer diese Flügel gehabt habe, wurde gefragt.
Freilich, und der Vater und der Großpapa auch. Die Kinder
kämen nackt auf die Welt, wie ein Sperber-Küken, aber nach einem
Jahre zeige sich schon der erste Flaum und mit vier Jahren flögen
sie schon nach Innsbruck und holten für den Vater den guten öster-
reichischen Landtabak. Geschwärzten natürlich, denn das brave Andreas
Hofer-Landl ist ja — Gott bessere es! immer noch nicht mit uns ver-
bunden. „Jetzt behüt' Euch Gott mit einand; i muß heim in s Nest!"
Er breitete die mächtigen, auf der Unterseite weißblau schimmern-
den Flügel aus; der Papagei versuchte keck eine Feder herauszurup-
'V
fen, doch sie saß fest wie ein Pfeil mit Widerhaken.
„Bitte, wie heißen Sie?" rief der „B. Z. u. M."-Mann
mit gezücktem Bleistift noch hinauf, als er schon fünfzig Meter hoch
schwebte. Aber es kam keine Antwort herunter.
Kopfschüttelnd zerstreute man sich.
In der „B. Z. u. M." stand anderen Tags folgendes:
Enok der Ski-Springer
(Blitzfunktelegr. unseres G.E.L.-Korrespondenten aus Mittenwald.)
Was die Menschen seit dem Hinauswurf aus dem Paradiese mit
heißer Seele immer wieder erstrebt haben, hier in der idyllischen
Karwendel-Siedelung Mittenwald (volle Pension 35 Mk. im Tag)
ist's schillerndes Ereignis geworden: Der Mensch fliegt! Nicht mit
Flugzeug oder Z. 20 410, nein, mit wirklichen Vogelflügeln.
Spannweite, wie ich nachgemeffen habe, 3,5 Meter. Ihr Korrespon-
dent hatte —als einziger unter 50 Konkurrenten — die Ehre, den
seltenen Vogel interviewen zu dürfen. Er heißt Enok, die Ein-
heimischen rufen ihn Enokerl, haust mit drei Frauen und 27 Kindern
in einer eiökriftallenen Höhle in rund 2500 Meter Höhe, nährt sich
von Körnern, jungen Gemsen und Murmeltieren, verschmäht jedoch
auch eine Bachforelle und ein Adler-Filet nicht. Er ist überhaupt
ein munterer Bursche. Hat den Weltrekord im Ski-Sprung auf
650 Meter hinaufgetrieben, natürlich außer Konkurrenz. Schuh-
Nummer 75. Anpassung der Natur an den Ski. Raucht geschwärz-
ten österreichischen Landtabak, wird in der Luft oft von dem hierorts
seltenen Lämmergeier attackiert; Narben von Schnabelhieben auf
Brust und Rücken.
O, Dädalos und Ikaros! Wenn Ihr das erlebt hättet!
(Nachschrift der Redaktion: Die Nachricht würde unglaublich klingen, wenn
unser Korrespondent nicht per Funkpaketpoft eine Feder von Enok geschickt
hätte. Wir stellen sie ab heute in unserm Auslagefenster aus).
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