Winter im Vorgebirge
„0, mein Gott, mein preisloser Familienschmuck, ein Ring, Mil-
lionen wert, ist nicht mehr an meinem Finger." Mit Befriedigung
merke ich, wie er sich bückte und den preislosen Ring in seiner hohlen
Fetthand verschwinden ließ. Ich bitte ihn, mit mir den Weg entlang
abzusuchen. Ich weiß, der Dicke wird, sobald er kann, verschwinden,
aber zunächst tut er so, als ob er mit mir im Sande suche. Nun ist
es eine bekannte Tatsache, daß ein Mensch, der uns betrügen will,
niemals merkt, daß wir
chn betrügen. Ich trenne
also während des Suchens
dem Dicken die Uhrkette
ab oder nehme mit einem
raschen Schnitt in die
Weste auch die Brief-
tasche aus dem Rock. Ich
gebe ihm dann ruhig Ge-
legenheit, zu verschwin-
den. Mag er selig wer-
den mit dem bunten
Glaöring und mag er zu
Hause merken, wie Gott
straft, wenn man betrü-
gen will. Ich aber denke
mit unsrem lieben Doktor
MartinuS: „Nicht mein
Werk, mein Glaube macht
mich selig." Diese Rache
der Moral eignet sich be-
sonders für Warenhäuser.
Ich bewege mich dort
stundenlang, schließlich
darf ich ja doch der De-
tektiv GotteS fein. Merke
ich nun, daß einer stiehlt,
so trete ich an ihn heran
und flüstere: „Halbpart!"
oder ich stehle im Mo-
ment, wo er stiehlt, auch
ihm eine Kleinigkeit und
selbst wenn er das merkte
(meine Übung schützt mich
natürlich davor, daß einer
ohne meinen Willen das
merken k tt n n), er müßte
ja doch seist Maul halten
aus Angst, daß es ihm
nun selber an den Kragen
geht... Meine Freunde,
eS gibt eine Gruppe von
Frauen, die ich hasse.
Das sind die EmpfangS-
fräuleinS bei Zahnärzten
oder jene gräulichen jun-
gen Mädchen in photo-
graphischen Ateliers, wel-
che nichts tun als süß
lispeln: „Bitte, mein
Herr, freundlich!" Einer
meiner wesentlichen Ge-
danken zur Verbesserung
der sittlichen Weltordnung
war nun dieser: Ich begebe
mich in eines der großen
photographischen Ateliers
der Weltstadt. Das Atelier
enthüllt sich meinem für
das Sittengesetz geschärf-
tem Blick sofort als
eine Stätte frivoler Lüsternheit. Der Geschäftsinhaber, obwohl ver-
heiratet, unterhält, was schon verdächtig ist, so ein seiderauschendes
Bitte-freundlich-Fräulein. Im Atelier, was mir gleichfalls mißfällt,
steht ein Divan mit Bärenfell, ein Klavier aus Mahagoni, zahl-
lose Fächer, Palmen, Vasen, Bronzen, Musikinstrumente, kurz, sehr
viel Überflüssiges. Und draußen darbt die Tugend. Ich erkundige
mich bei dem Fräulein nach dem Preise der Bilder. Ich habe sofort
f*
- 7 e
Lithographie von Richard Pjehsch
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„0, mein Gott, mein preisloser Familienschmuck, ein Ring, Mil-
lionen wert, ist nicht mehr an meinem Finger." Mit Befriedigung
merke ich, wie er sich bückte und den preislosen Ring in seiner hohlen
Fetthand verschwinden ließ. Ich bitte ihn, mit mir den Weg entlang
abzusuchen. Ich weiß, der Dicke wird, sobald er kann, verschwinden,
aber zunächst tut er so, als ob er mit mir im Sande suche. Nun ist
es eine bekannte Tatsache, daß ein Mensch, der uns betrügen will,
niemals merkt, daß wir
chn betrügen. Ich trenne
also während des Suchens
dem Dicken die Uhrkette
ab oder nehme mit einem
raschen Schnitt in die
Weste auch die Brief-
tasche aus dem Rock. Ich
gebe ihm dann ruhig Ge-
legenheit, zu verschwin-
den. Mag er selig wer-
den mit dem bunten
Glaöring und mag er zu
Hause merken, wie Gott
straft, wenn man betrü-
gen will. Ich aber denke
mit unsrem lieben Doktor
MartinuS: „Nicht mein
Werk, mein Glaube macht
mich selig." Diese Rache
der Moral eignet sich be-
sonders für Warenhäuser.
Ich bewege mich dort
stundenlang, schließlich
darf ich ja doch der De-
tektiv GotteS fein. Merke
ich nun, daß einer stiehlt,
so trete ich an ihn heran
und flüstere: „Halbpart!"
oder ich stehle im Mo-
ment, wo er stiehlt, auch
ihm eine Kleinigkeit und
selbst wenn er das merkte
(meine Übung schützt mich
natürlich davor, daß einer
ohne meinen Willen das
merken k tt n n), er müßte
ja doch seist Maul halten
aus Angst, daß es ihm
nun selber an den Kragen
geht... Meine Freunde,
eS gibt eine Gruppe von
Frauen, die ich hasse.
Das sind die EmpfangS-
fräuleinS bei Zahnärzten
oder jene gräulichen jun-
gen Mädchen in photo-
graphischen Ateliers, wel-
che nichts tun als süß
lispeln: „Bitte, mein
Herr, freundlich!" Einer
meiner wesentlichen Ge-
danken zur Verbesserung
der sittlichen Weltordnung
war nun dieser: Ich begebe
mich in eines der großen
photographischen Ateliers
der Weltstadt. Das Atelier
enthüllt sich meinem für
das Sittengesetz geschärf-
tem Blick sofort als
eine Stätte frivoler Lüsternheit. Der Geschäftsinhaber, obwohl ver-
heiratet, unterhält, was schon verdächtig ist, so ein seiderauschendes
Bitte-freundlich-Fräulein. Im Atelier, was mir gleichfalls mißfällt,
steht ein Divan mit Bärenfell, ein Klavier aus Mahagoni, zahl-
lose Fächer, Palmen, Vasen, Bronzen, Musikinstrumente, kurz, sehr
viel Überflüssiges. Und draußen darbt die Tugend. Ich erkundige
mich bei dem Fräulein nach dem Preise der Bilder. Ich habe sofort
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Lithographie von Richard Pjehsch
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