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30. JAHRGANG
1925 / NR. 26
Kunstausstellung in der Akademie der Künste
Gottfried Schadow (1764 — 1850)
ALT-BERLIN
VON WILLI WOLFRADT
Berlin ist dermaßen Gegenwart, daß dem Ansässigen wie dem
fremden Besucher das Vorleben dieser Stadt kaum zum Bewußtsein
kommt. Dabei sind die baulichen Zeugnisse
ihrer Vergangenheit nicht einmal spärlich.
Aber sie bestimmen das Stadtbild so wenig,
wie die übrigen Erinnerungen das Lebens-
tempo. Anderwärts umwahrt das ausdrucks-
los Neue den alten Stadtkern wie ein Aller-
heiligstes, von dem das Ganze Nimbus und
Begriff empfängt. In Berlin geht die ge-
schichtliche Erscheinung so gut wie restlos im
Heute auf. Diese Stadt hat niemals an
übertriebener Pietät für Gewesenes gekrankt;
ihre eingeborene Skepsis verschont auch die
Autorität der eigenen Historie nicht. Immer-
hin aber gibt eö ein Alt-Berlin, und die
Freude an seiner Eigenart ist im Wachsen. —
Blickt der Berliner zurück, so überkommt
ihn nicht so sehr der Stolz auf irgend welche
Epoche einstiger Größe, sondern vor allem
eine heitere Genugtuung über den dreisten
Witz der mit Spreewasser getauften Ecken-
steher und über das hurtige Mundwerk der
Marktweiber von damals. Oh, Berlin ist
bereits im dreizehnten Jahrhundert ein ganz
stattliches Plätzchen gewesen, und nicht allein
die Klosterkirche bestätigt öffentlich diese
mittelalterliche Herkunft. Schon der Name
Frauenkopf Gottfried Schadow
eines Andreas Schlüter unter so vielen von gutem Klang möchte
die preußische Metropole berechtigen, sich auf ihre künstlerische Ver-
gangenheit etwas einzubilden. Doch nicht in
seinen großen Architekten sonnt sich Berlin,
sondern in seinen Schusterjungen und Drosch-
kenkutschern, - und sein historisches Selbst-
bewußtsein rühmt sich weit weniger der höfi-
schen oder wissenschaftlichen Ereignisse, als
der alten Volksfeste und Vergnügungslokale.
Der Begriff „Alt-Berlin" umfaßt natür-
lich die Gesamtheit der säkularen Schichten
und Lebenskreise. Er bezeichnet ein langes
Werden, das sich zum mindesten schon seit
den Tagen des Großen Kurfürsten zur Ge-
stalt verdichtet, insbesondere dann im frideri-
zianischen Berlin stilschöpferisch manifestiert
hat, und in vielen Absätzen bis gestern, bis
unmittelbar an die Schwelle der Gegenwart
reicht. Denn Berlin ist seinem ganzen Wesen
nach so sehr Stadt des Neuen, daß seinem
Empfinden bereits die etwas verjährten
Typen der elektrischen Straßenbahn als
schnurriges Stück Alt-Berlin Vorkommen
wollen. Den Vordergrund aber dieses Be-
griffes nimmt das bürgerliche Berlin der
Romantik, des Biedermeier, des Vormärz
ein. Damals, in der ersten Hälfte des vori-
gen Jahrhunderts, erwachte die Hauptstadt
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30. JAHRGANG
1925 / NR. 26
Kunstausstellung in der Akademie der Künste
Gottfried Schadow (1764 — 1850)
ALT-BERLIN
VON WILLI WOLFRADT
Berlin ist dermaßen Gegenwart, daß dem Ansässigen wie dem
fremden Besucher das Vorleben dieser Stadt kaum zum Bewußtsein
kommt. Dabei sind die baulichen Zeugnisse
ihrer Vergangenheit nicht einmal spärlich.
Aber sie bestimmen das Stadtbild so wenig,
wie die übrigen Erinnerungen das Lebens-
tempo. Anderwärts umwahrt das ausdrucks-
los Neue den alten Stadtkern wie ein Aller-
heiligstes, von dem das Ganze Nimbus und
Begriff empfängt. In Berlin geht die ge-
schichtliche Erscheinung so gut wie restlos im
Heute auf. Diese Stadt hat niemals an
übertriebener Pietät für Gewesenes gekrankt;
ihre eingeborene Skepsis verschont auch die
Autorität der eigenen Historie nicht. Immer-
hin aber gibt eö ein Alt-Berlin, und die
Freude an seiner Eigenart ist im Wachsen. —
Blickt der Berliner zurück, so überkommt
ihn nicht so sehr der Stolz auf irgend welche
Epoche einstiger Größe, sondern vor allem
eine heitere Genugtuung über den dreisten
Witz der mit Spreewasser getauften Ecken-
steher und über das hurtige Mundwerk der
Marktweiber von damals. Oh, Berlin ist
bereits im dreizehnten Jahrhundert ein ganz
stattliches Plätzchen gewesen, und nicht allein
die Klosterkirche bestätigt öffentlich diese
mittelalterliche Herkunft. Schon der Name
Frauenkopf Gottfried Schadow
eines Andreas Schlüter unter so vielen von gutem Klang möchte
die preußische Metropole berechtigen, sich auf ihre künstlerische Ver-
gangenheit etwas einzubilden. Doch nicht in
seinen großen Architekten sonnt sich Berlin,
sondern in seinen Schusterjungen und Drosch-
kenkutschern, - und sein historisches Selbst-
bewußtsein rühmt sich weit weniger der höfi-
schen oder wissenschaftlichen Ereignisse, als
der alten Volksfeste und Vergnügungslokale.
Der Begriff „Alt-Berlin" umfaßt natür-
lich die Gesamtheit der säkularen Schichten
und Lebenskreise. Er bezeichnet ein langes
Werden, das sich zum mindesten schon seit
den Tagen des Großen Kurfürsten zur Ge-
stalt verdichtet, insbesondere dann im frideri-
zianischen Berlin stilschöpferisch manifestiert
hat, und in vielen Absätzen bis gestern, bis
unmittelbar an die Schwelle der Gegenwart
reicht. Denn Berlin ist seinem ganzen Wesen
nach so sehr Stadt des Neuen, daß seinem
Empfinden bereits die etwas verjährten
Typen der elektrischen Straßenbahn als
schnurriges Stück Alt-Berlin Vorkommen
wollen. Den Vordergrund aber dieses Be-
griffes nimmt das bürgerliche Berlin der
Romantik, des Biedermeier, des Vormärz
ein. Damals, in der ersten Hälfte des vori-
gen Jahrhunderts, erwachte die Hauptstadt
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