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zu der ihr eigenen Vielregigkeit
und zum allgemeinen Ausdruck ihres
Charakters.

Dessen Grundzug ist ein phrasen-
loser Wirklichkeitssinn, den Spitz-
findigkeit des Humors und phanta-
stisch gesteigerte Sachlichkeit davor
bewahren, nüchtern zu werden. Aus
dieser Formel lassen sich die hervor-
stechenden Eigenschaften des Ber-
linischen unmittelbar ableiten: Ge-
nauigkeit, Beobachtungsschärfe, mün-
dend in Spottlust, Aufrichtigkeit
bis zur Frechheit, aber andererseits
auch bis zu unumwundener Selbft-
ironie; ein schlichtes, unsentimenta-
le6 Verhältnis zu den Tatsachen,
daS die Dinge nimmt, wie sie sind
und sich als Zwecksinn, Vorurteils-
losigkeit und Abneigung gegen
Schwulst, Zeremoniell und Orna-
ment äußert, ohne einer urbanen
Anmut zu entraten.

Von solchem Wesen her be-
stimmt sich schon die Sondernote
des Berliner Spätbarock und des
Klassizismus der Schinkel und
Schadow, aber erst in Malerei und
Zeichnung kann sich der bürgerliche
Realismus dieser Stadt frei ent-
falten. Eine gerade Bahn verbindet
den noch zopfig-steifen, aber witzeS-
scharf charakterisierenden Sitten-
schilderer Chodowiecki mit Menzel, dem Genie malerisch gelöster,
dabei haargenauer Sachlichkeit. Ungefähr die Mitte zwischen ihnen
hält Franz Krüger, bezaubernd in der ihm eigenen Verbindung von
eleganter Liebenswürdigkeit und disziplinierter Ausführlichkeit, die
es ihm etwa gestattet, eine große Parade unter den Linden mit topo-
graphischer Richtigkeit der Häuser und vielen lebendigen Porträts im
hundertköpfigen Zuschauerhaufen ebenso charmant wie straff, so intim
wie großzügig wieder-
zugeben. Wie dieses
Hauptftück so umfaßt
sein Schaffen außer
Bildnis und Tierdar-
ftellung die beiden in
Alt-Berlin vor allem
gepflegten Gebiete der
Architekturmalerei und
der Lebensschilderung.

Die Straße fand eine
ganze Reihe von Spe-
zialisten, deren ftim-
mungsfeinster neben
Brücke wohl Gaertner,
deren eigenbrötlerische-
ster aber jener Hum-
mel gewesen ist, dem
alles auf perspektivi-
sche Schwierigkeiten
und kniffliche Spiegel-
kunststücke ankam. Jn-
nenräume fanden vor
allem in Graeb einen
Meister von sprühen-
der Leichtigkeit der
Hand. Wie diese Künst-
ler Berlin, so haben

andere den Berliner mit Stift und
Farben festgehalten, — in uner-
schöpflicher Laune und artigen
Mitteln besonders Hosemann, kari-
katuristisch derber, drastischer, der
treffliche Illustrator Berliner Re-
densarten, der Livländer Dörbeck.
Nur die Romantiker Blechen und
Katel zog es in die blaue Ferne,
sonst war die Physiognomie Ber-
lins selbst der eingehend und
witzig behandelte Gegenstand seiner
Maler; das natürliche Thema einer
Kunst, deren Wurzel Wirklichkeits-
sinn und Beobachtungsluft ist.
Nicht Historie noch symbolische
oder religiöse Darstellung gedieh
auf dem Berliner Pflaster.

So spiegelt sich das alte Berlin
nach 1800 getreulich in seiner
Kunst, und ähnlich ergibt sich daö
farbige Bild seines geistigen, ge-
selligen und öffentlichen Treibens
aus den mannigfachen Berichten
der Dichter, Schriftsteller und
nicht zuletzt der tonangebenden
Frauen, in deren Salons nun zir-
kulierte, was Berlin an Menschen
von Bedeutung nur zu bieten hatte.
Im Kreise der Henriette Herz oder
der Rahel Varnhagen begegneten
sich Adel und gebildetes Bürger-
tum, hier verkehrte Schleiermacher,
die Schlegels, die Humboldts; und vergegenwärtigt man sich ferner
die Beziehung der Kleist, Eichendorff, Chamisso, Hegel, Heine,
Börne und vieler anderer zu dem alten Berlin, so hat man doch
eine Andeutung von seiner geistigen Lebendigkeit. Wie sie umrahmt
ist von der Buntheit volkstümlichen Treibens, von der jetzt aufge-
tauten Ursprünglichkeit der Menge, das erst ergibt die Einheit des
Begriffes „Alt-Berlin". Straßen und Lokale der Stadt hat keiner

phantasievoller geschil-
dert als E. T. A.
Hoffmann, der sie so
oft zum Schauplatz
seiner Erzählungen ge-
wählt hat, daß man
ihn geradezu den
Dichter Alt - Berlins
nennen möchte. Aber
am leibhaftigsten lebt
es auf, wo der Ber-
liner selbst die große
Klappe auftun darf
und in seinem eigen-
sten Idiom mit Wor-
ten spielen, räsonnie-
ren und die Menschen
„veräppeln" kann.
Nachdem ihn I. v.
Roß in seinem Possen-
spiel „Der Stralauer
Fischzug" auf die
Bühne gebracht hatte,
ließ ihn Angely in
vielen seiner Vaude-
villes wiederkehren.
Doch einzig in den
famosen Monologen,

Porträtstudie Franz Krüger (1797—1857)

Der Weiße Saal im Berliner Schloß Karl Graeb (1816— 1884)

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Register
Franz Krüger: Porträtstudie
Karl Graeb: Der Weiße Saal im Berliner Schloß
 
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