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Theodor Hosemann (1807— 1875)

Stralauer Fischzug. Um 1840.

Ach Iott, war bet ne scheene Zeit,

So anno Eens, vastehfte,

Wo allenS noch Iemietlichkeit,

Keen Klassenkampf bet Volk entzweit,
Dat noch nich „mindig," weeßte,

Nich „uffjeklärt" un jänzlich jrien
Un noch nich rot bebändert,

Mit Willem ooch janz jut jedieh'n...
O Alt-Berlin, o Alt-Berlin,

Wie haste Dir verändert!

O Alt-Berlin!

Weeß Iott, man lebte seelenfroh
Als wie in'n siebten Himmel,
Vajniejt wie'n Mops in'n Paletot
Ooch ohne — Kintopp, Radio
Un WeltverbriedrungSfimmel!

Man wußte nischt von Kokain,
Von DaweS un Boxrekorden,

Man kannte noch keen Magazin ...
O Alt-Berlin, o Alt-Berlin,

Wat iS aus Dir jeworden!

Kiki

Mit eenem Wort: man war noch „doof"
Un is — nich dran jestorben,

Denn noch keen nackjer Shimmyschwof,
Keen Reichstag, keen Revuejeloof
Hat Kopp un Herz verdorben!

Del Mannsvolk war nich feminin
Von wejen schwache Brieder,

Die Weiber hatten keinen Spleen ...

O Alt-Berlin, o Alt-Berlin,

Wann kommfte endlich wieder?

DR. HEIMS SPERBER

BERLINER SCHATTENBILD AUS DER BIEDERMEIERZEIT / VON ERDMANN GRAESER

Nach dem blutheißen August, in dem Berlin fast verschmachtet,
kam überraschend ein herbstlich-kühler September in diesem Jahr.
Der Himmel war strahlend blau, aber unter diesem Blau trieben
eilfertig große, weiße Wolkenfetzen dahin und verdunkelten jäh die
sonnenhellen Stuben. Da6 ausgedörrte Laub der Kastanienbäume
raschelte schon bei jedem Windstoß sterbensmatt zur Erde. Fenster-
läden und Jalousien waren in ständiger Erregung. — — —

In dem Krankenzimmer de6 Geheimen Rats Or. med. Ernst
Ludwig Heim malt die Sonne leuchtende Kringel auf den Boden.
Die Angehörigen sind hinauögefchlichen, der Alte will für sich fein

— vielleicht, daß er nach schlaflos verbrachter Nacht jetzt wohl-
tuenden Schlummer finde. Aber er ist nicht müde — nur seine Ge-
danken wollen allein sein. Daß es nicht gut mit ihm stehe, weiß er

— der alte Medikus — und wenn er das Rezept gegen marusmus
senilis gefunden, um das ihn damals die 84 jährige Exzellenz ge-
beten, so würde er eS heute selbst gebrauchen können.

Da drüben, auf dem Tische, liegt die lange schwärzliche Ton-

pfeife, aus der er sonst von früh bis spät den scharfen Tobak ge-
raucht. Stünde eS gut mit ihm, so hätte er sie sich längst schon mit
seinem geliebeten „LauSwenzel" gestopft. Aber — er hat kein Ver-
langen danach, auch ohne die blauen Rauchwölkchen kann er jetzt
sinnieren, Abrechnung mit seinem Ltben halten...

Nun — er ist zufrieden damit.'Damals, noch ein Käsehoch —
als er da jenem Mann mit dem goldenen Tressenhut gesehen und
man ihm gesagt, daß dies ein Doktor der Medizin sei — ach Gott,
ja — da war ihm wohl zum erstenmal der Wunsch aufgeflammt,
auch eine solche Respektperson zu werden. Daß er aber einmal der
berühmteste Arzt seiner Zeit werden sollte, ein Doktor, dem man
selbst anS Sterbelager der geliebten Königin Luise — dieser schönen
Frau — rufen würde — wer hätte ihm das wohl prophezeien
können!

Der Alte — das Genick ist ihm steif, die Glieder so schwer —
wendet sich mühsam auf die andere Seite, starrt die Sonnenkringel
auf der Diele an. „Der Tod" — er spricht eS vor sich hin — ist

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Erdmann Graeser: Dr. Heims Sperber
Theodor Hosemann: Stralauer Fischzug
KiKi.: O Alt-Berlin!
 
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