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3 3. JAHRGANG

1 9 2 8 / NR. 4

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Jjn dein zwischen Solling und dcni Teuto-
burger Wald gelegenen Teile Westfalens ist es
üblich, daß am Silvesterabend die Knechte von
Gut zu Gut ziehen, um unter Gesang und allerlei
Spottversen den Herrschaften ein glückliches
neues Jahr zu wünschen. Um die Wende des
Jahres 1908 ereignete sich bei diesem Brauche
folgender Unfall. Ein Knecht mit Namen
Johannes Timm, ein rechter Spaßvogel und
Schwerenöter, hatte an diesem Abend zuviel
des dargebvtenen Punsches genossen und sich,
müde geworden, aus einen Wegstein gesetzt,
um auszuruhen, während seine Genossen in
der kalten Winternacht grvhlend weiterzogen.
Am Morgen fand ihn ein in die Stadt fahren-
der Milchjnnge noch an derselben Stelle, aber
tot, mit einer tiefen
Schramme am Hals,
zwischen den Weiden-
stvppeln des Grabens
liegend.

Schreckensbleich er-
zählte der Junge in der
Stadt, ivas er gesehen,
und da seine Phantasie
infolge einer halb durch-
wachten Nacht und
durch den aufregenden
Anblick Timms einen
bei ihm sonst unge-
wohnten Aufschwung
genommen, brachte er
folgenden grausigen
Sachverhalt vor: Timm
sei ermordet worden,
ein Dolch stecke ihm im
Herzen, der Schnee sei
ringsum rot von Blut.

Um die zehnte Mor-
genstunde kam das
Dienstmädchen des Bür-
germeisters von Etteln
zum Polizisten Adam
gerannt, der hinter dicht
zugezogenen Gardinen
einer wohlverdienten
Ruhe genoß. Denn er
hatte sich die ganze
Nacht bemüht, dem
Schalle von Böllern und
Pistolen nachzugehen
und die Ruhestörer zu

verhaften. Wenn ihm Der Eindringling

dies auch nicht gelungen war, sv hatte er doch
den Herrn Amtmann und den Herrn Rechts-
anwalt nach Hause geleitet, was eine große
Krastanstrengung erfordert hatte. Herr Adam
war zuerst sehr empört, als man ihn im
Bette wachschüttelte, jedoch die Wichtigkeit des
Falles und die ihm dabei zufallende, gleichfalls
sehr wichtige Rolle verwandelte seinen Zorn
in ruhige Besonnenheit und machten aus einem
schläfrigen Gähner einen streng dreinschauen-
den Beamten. Während seine Frau ihm den
Säbel umschnallte, trank Adam rasch einige
Schluck warmen Kaffee, dann stürmte er los
und rannte querfeldein, um Vorsprung zu ge-
Ivinnen. Aber bald fühlte er durch den ihm
fast bis an die Knie reichenden Schnee hin-

durch, daß er gepflügten Acker unter den Füßen
hatte, und da eine ziemliche Leibesfülle ihn
schon aüf ebenem Wege am Galopp hinderte,
so gestaltete sich sein Vorwärtöarbeiten zu
einem känguruhartigen Hopsen, das trotz der
Bedrückung aller Gemüter bei den auf der
Landstraße ziehenden und ihn von ferne be-
obachtenden Ettelnern spontane Heiterkeit er-
weckte. Adam rechnete später diesen Tag zu
den ärgerlichsten seines Lebens. Denn als er
am Tatorte erschien, beachtete ihn niemand.
Er stellte sich beiseite und verspürte außer den
Gefühlen der Demütigung, des Zornes und
des Neides noch das eines deutlichen Hungers.
Die Neugier regte sich erst in letzter Linie.
Er schielte durch den vom Bürgermeister, dem
Landarzt, zwei Guts-
herren und dem Gen-
darmerie - Wachtmeister-
gebildeten Ring, ver-
mochte jedoch weder
einen Dolch noch die
Spuren von Blut zu
bemerken.

„Ich habe sofort dem
Staatsanwalt Mel-
dung zukommen lassen
und an den Herrn Kreis-
arzt telegraphiert", ließ
sich der Bürgermeister-
Vernehmen.

„Erdolcht scheint, so-
weit ich sehe, der Tote
nicht zu sein. Auch
scheintkeinKampf statt-
gefunden zu haben, da
die zu sehenden Spuren
nur von Rebhühnern
herrühren können."

„Jawohl", bemerkte
der Wachtmeister, in-
dem er sich hernieder-
beugte. „Nach meiner
Ansicht," sagte der Arzt,
„muß er erwürgt sein.
Sehen Sie die Stran-
gulativnsmarke am
Halse." „Nun," sagte
der Bürgermeister, „wir
haben unsere Psticht
getan, die Vorgefunde-
nen Verhältnisse sind
Max Kellerer schriftlich und bildlich
Register
Max Kellerer: Der Eindringling
Rudolf Nutt: Der Mord
 
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