Zierde gereicht. Was vorgefallen ist, wird
feine Sühne stndcn. Anlaß znr Unruhe besteht
nicht. Die Behörden werden alle Maßregeln
zu eurer Sicherheit mit unnachsichtlicher Strenge
ergreifen. Ich fordere die besonnenen Männer
unter den Anwesenden auf, ihren Einstuß dahin
geltend zu machen, daß sich alle nach Hause
begeben. Geht! Prosit Neujahr!"
Der Wagen fuhr unter vielen cntgegen-
schallendcn „Prosit Neujahr"-Rufen davon.
Kaum war er außer Sicht, da fand ein schreck-
liches Gedränge gegen den Polizisten Adam
statt, der mit Leibeskräften ein streng ge-
bietendes „Zurück" nach dem andern rief. Aber
schließlich ließ er auf die Fürsprache einiger
naher Bekannter alle Anwesenden in den
Graben schauen. Nachdem die Ettelner den
steif wie ein Brett dalicgendcn Timm lange
erschauernd betrachtet hatten, machten sie sich
auf den Heimweg, sich eng zusammenhaltend
und viele grausige Vorkommnisse aus ver-
gangenen Jahren erzählend, woran sie ernste
Betrachtungen über Leben und Menschenschick-
sal knüpften. Der Polizist Adam blieb allein
an Ort und Stelle und murmelte, geplagt von
schrecklichem Hunger, immer wieder in den
bereiften Bart: „Das neue Jahr fängt gut
an!" Verstohlen schlich sich eine leise Furcht
in sein sonst so tapferes Herz, denn die herein-
brechende Dämmerung verzerrte die Gestalt
Timms bereits ins Gespensterhafte. Bei Be-
ginn der Dunkelheit kam endlich ein mit einigen
Bündeln Stroh beladener Ackerwagen. Der
Kreisarzt hatte angeordnet, daß Timm für
den Fall einer Obduktion in die sogenannte
Cholerabaracke geschastt werden sollte, ein zu
Desinfektionszwecken dienendes Backsteinhäus-
chen. Dort wurde also Johannes Timm unter-
gebracht, und dieser Knecht, der im Leben den
Ettclnern so manches Schnippchen geschlagen,
fuhr auch im Tode fort, sich als großen Schalk
zu zeigen.
Der Kreisarzt hielt die von der Staats-
anwaltschaft angeordnete Obduktion des hart-
gefrorenen Körpers nicht für möglich, sie mußte
daher bis zum Eintritt milderen Wetters ver-
schoben werden. Der herrschende Frost aber
dauerte in aller Schärfe an. Vier oder fünf
Knechte saßen hinter Schloß und Riegel, eine
bange Ungewißheit lastete auf der ganzen
Umgegend. Unter diesen Umständen kam der
Magistrat von Etteln überein, von einem
Bauunternehmer zwei alte Koksöfen zu kaufen,
niit denen Timm rasch aufgetaut werden sollte.
Die Cholerabaracke wurde gestickt und aus-
gebessert, aber der kalte Wind fand an ihr
noch genug Löcher zum Pfeifen vor. Als
Heizer wurde der Abdecker für billiges Geld
verpstichtet. Sei es nun, daß dieser mit Koks-
öfen nicht recht vertraut war, sei es, daß die
bei Tag erzeugte Wärme sich des Nachts
wieder verstüchtigte und die Kälte deren Werk
wieder zerstörte, kurzum, Timm taute nicht
auf. Da beschloß der Magistrat, gegen die
Widersetzlichkeit des störrischen Knechtes ganz
energisch vorzugehen und das Feuer auch des
Nachts zu unterhalten. Als Lohn für jede
Nacht wurden fünf Mark ausgesetzt, und
hieraus ist erklärlich, daß der Zweck der nächt-
lichen Glut verfehlt wurde, indem der Ab-
decker nur ein sanftes Feuerchen entfachte. Er
errang nebenbei für seine Tätigkeit den Ruf
eines unerschrockenen Helden, leider nur für-
kurze Zeit. Der Tod Timms hatte inzwischen
daS gesellschaftliche Leben Ettelns nicht un-
beeinstußt gelassen. Wie die Hühner eng zu-
sammcnrücken, wenn der Habicht über ihnen
schwebt, so zogen sich die Ettelner immer
mehr um ihre abendlichen Stannntische zu-
sammen. Es wurde gewaltig getrunken, wo-
durch eine kleine Brauerei vor drohendem
Bankrott errettet wurde. Besonders aber und
vor allen Dingen wurden Mord- und Ge-
spenstergeschichten erzählt, und durch die
eigentümliche, über Etteln lagernde Atmo-
sphäre wurde sogar eine Diskussion darüber
veranlaßk, ob das leibhaftige Erscheinen des
Teufels zu den Tatsachen oder zu den Mär-
chen zu rechnen sei, eine Frage, die an den
Ettelner Stammtischen verschiedene Welt-
anschauungen zur Entfaltung brachte. In
dieser Zeit nahmen die Ettelner die Gewohn-
heit an, im Dunkeln zu pfeifen, aus dem
(Fortsetzung Seite 62>
Abschied in der (Vorstadt
Wenn man fröstelnd unter der Laterne steht,
Ivo man tausend Male mit ihr stand. . .
Wenn sie, ängstlich wie ein Kind, ins Dunkel
geht,
winkt man lautlos mit der Hand.
Denn man weiß: man winkt das letzte Mal.
Und an ihrem Gange sieht man, daß sie weint.
War die Straße stets so grau und stets so kahl?
Ach, eö fehlt bloß, daß der Vollmond scheint...
Plötzlich denkt man an das Abendbrot
und empstndet dies als gänzlich deplaciert. —
Ihre Mutter hat zwei Jahre lang gedroht.
Heute folgt sie nun. Und geht nach Haus.
Und friert...
Lust und Trost und Lächeln trägt sie fort!
Und man will sie rufen! Man bleibt stumm.
Und sie geht und geht und wartet auf einWort!
Und sie geht und geht und dreht sich nie mehr
um.. .
Erich Kästner
Begegnung Walter Russ
(L! n d c n - V e r l a g)
5)
feine Sühne stndcn. Anlaß znr Unruhe besteht
nicht. Die Behörden werden alle Maßregeln
zu eurer Sicherheit mit unnachsichtlicher Strenge
ergreifen. Ich fordere die besonnenen Männer
unter den Anwesenden auf, ihren Einstuß dahin
geltend zu machen, daß sich alle nach Hause
begeben. Geht! Prosit Neujahr!"
Der Wagen fuhr unter vielen cntgegen-
schallendcn „Prosit Neujahr"-Rufen davon.
Kaum war er außer Sicht, da fand ein schreck-
liches Gedränge gegen den Polizisten Adam
statt, der mit Leibeskräften ein streng ge-
bietendes „Zurück" nach dem andern rief. Aber
schließlich ließ er auf die Fürsprache einiger
naher Bekannter alle Anwesenden in den
Graben schauen. Nachdem die Ettelner den
steif wie ein Brett dalicgendcn Timm lange
erschauernd betrachtet hatten, machten sie sich
auf den Heimweg, sich eng zusammenhaltend
und viele grausige Vorkommnisse aus ver-
gangenen Jahren erzählend, woran sie ernste
Betrachtungen über Leben und Menschenschick-
sal knüpften. Der Polizist Adam blieb allein
an Ort und Stelle und murmelte, geplagt von
schrecklichem Hunger, immer wieder in den
bereiften Bart: „Das neue Jahr fängt gut
an!" Verstohlen schlich sich eine leise Furcht
in sein sonst so tapferes Herz, denn die herein-
brechende Dämmerung verzerrte die Gestalt
Timms bereits ins Gespensterhafte. Bei Be-
ginn der Dunkelheit kam endlich ein mit einigen
Bündeln Stroh beladener Ackerwagen. Der
Kreisarzt hatte angeordnet, daß Timm für
den Fall einer Obduktion in die sogenannte
Cholerabaracke geschastt werden sollte, ein zu
Desinfektionszwecken dienendes Backsteinhäus-
chen. Dort wurde also Johannes Timm unter-
gebracht, und dieser Knecht, der im Leben den
Ettclnern so manches Schnippchen geschlagen,
fuhr auch im Tode fort, sich als großen Schalk
zu zeigen.
Der Kreisarzt hielt die von der Staats-
anwaltschaft angeordnete Obduktion des hart-
gefrorenen Körpers nicht für möglich, sie mußte
daher bis zum Eintritt milderen Wetters ver-
schoben werden. Der herrschende Frost aber
dauerte in aller Schärfe an. Vier oder fünf
Knechte saßen hinter Schloß und Riegel, eine
bange Ungewißheit lastete auf der ganzen
Umgegend. Unter diesen Umständen kam der
Magistrat von Etteln überein, von einem
Bauunternehmer zwei alte Koksöfen zu kaufen,
niit denen Timm rasch aufgetaut werden sollte.
Die Cholerabaracke wurde gestickt und aus-
gebessert, aber der kalte Wind fand an ihr
noch genug Löcher zum Pfeifen vor. Als
Heizer wurde der Abdecker für billiges Geld
verpstichtet. Sei es nun, daß dieser mit Koks-
öfen nicht recht vertraut war, sei es, daß die
bei Tag erzeugte Wärme sich des Nachts
wieder verstüchtigte und die Kälte deren Werk
wieder zerstörte, kurzum, Timm taute nicht
auf. Da beschloß der Magistrat, gegen die
Widersetzlichkeit des störrischen Knechtes ganz
energisch vorzugehen und das Feuer auch des
Nachts zu unterhalten. Als Lohn für jede
Nacht wurden fünf Mark ausgesetzt, und
hieraus ist erklärlich, daß der Zweck der nächt-
lichen Glut verfehlt wurde, indem der Ab-
decker nur ein sanftes Feuerchen entfachte. Er
errang nebenbei für seine Tätigkeit den Ruf
eines unerschrockenen Helden, leider nur für-
kurze Zeit. Der Tod Timms hatte inzwischen
daS gesellschaftliche Leben Ettelns nicht un-
beeinstußt gelassen. Wie die Hühner eng zu-
sammcnrücken, wenn der Habicht über ihnen
schwebt, so zogen sich die Ettelner immer
mehr um ihre abendlichen Stannntische zu-
sammen. Es wurde gewaltig getrunken, wo-
durch eine kleine Brauerei vor drohendem
Bankrott errettet wurde. Besonders aber und
vor allen Dingen wurden Mord- und Ge-
spenstergeschichten erzählt, und durch die
eigentümliche, über Etteln lagernde Atmo-
sphäre wurde sogar eine Diskussion darüber
veranlaßk, ob das leibhaftige Erscheinen des
Teufels zu den Tatsachen oder zu den Mär-
chen zu rechnen sei, eine Frage, die an den
Ettelner Stammtischen verschiedene Welt-
anschauungen zur Entfaltung brachte. In
dieser Zeit nahmen die Ettelner die Gewohn-
heit an, im Dunkeln zu pfeifen, aus dem
(Fortsetzung Seite 62>
Abschied in der (Vorstadt
Wenn man fröstelnd unter der Laterne steht,
Ivo man tausend Male mit ihr stand. . .
Wenn sie, ängstlich wie ein Kind, ins Dunkel
geht,
winkt man lautlos mit der Hand.
Denn man weiß: man winkt das letzte Mal.
Und an ihrem Gange sieht man, daß sie weint.
War die Straße stets so grau und stets so kahl?
Ach, eö fehlt bloß, daß der Vollmond scheint...
Plötzlich denkt man an das Abendbrot
und empstndet dies als gänzlich deplaciert. —
Ihre Mutter hat zwei Jahre lang gedroht.
Heute folgt sie nun. Und geht nach Haus.
Und friert...
Lust und Trost und Lächeln trägt sie fort!
Und man will sie rufen! Man bleibt stumm.
Und sie geht und geht und wartet auf einWort!
Und sie geht und geht und dreht sich nie mehr
um.. .
Erich Kästner
Begegnung Walter Russ
(L! n d c n - V e r l a g)
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