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Alex blieb noch eine koke Zeit lang im Wagen sitzen, um sein Bewußt-
sein in die umgebende Wirklichkeit umzukurbeln. Aber diesem seelischen
Aufwand gegenüber blieb er Gummi und wie Wachs in der Sonne.
Er hatte nicht einmal die Kraft, zu dem Gedanken aufzusteigcn —
warum sie jetzt am probefreien Mittag das Theater aufsuchte.

Immer noch war sie ihm als blühende Landschaft nahe, nach der
er sehnend litt...! Eine Dame war für ihn zu treibendem Proto-
plasma geworden, zu einem Garten voll Jasmin, zu einem Fensterbrett
mit Tulpen und Hyazinthen!

Wenn er die Augenlider schloß, die er wie Jalousien vor einem
schtvülen Gewitter niedcrzog, stand sic vor ihm. Und er ging durch sie
hindurch, fuhr durch ihre Täler und Hügel... Er hätte- jetzt auf
ihrem Leib Blumen pflücken mögen. Ihre Hände wurden dem Dichter
zu blühenden Zweigen, in denen Bügel nisteten. Alinde war zu einer
jener schönsten Landschaften der Erde geworden, die in Reisebüchern
mit drei Sternen bezeichnet sind, von denen man Anjichtökarten ver-
schickt, und ruhig sterben kann, wenn man ste gesehen hat...

Alex aber, der Dichter, wollte sie immer sehen, um immer in einem
blühenden Tod untertauchen zu können. Gegen Abend ging er ihrer
Wohnung zu, wie einer — der nach dem gelobten Lande wandert. Mit
jeder Straßenzeile schien er ihrem Aequator näher zu kommen. Ihr
Treppenhaus erstieg er als einen Berg, von dem aus die schönste Land-
schaft aller Erdteile ihm zu Füßen liegen mußte.

Jetzt stand er vor ihrer Tür. DaS Wohnungsschild wird ihm zu der
-ialendcrankündigung vom „Frühlingsanfang". Er horchte durchs
Schlüsselloch — wie nach Vogelstimmen. Er horchte und wartete
lange — — aber alles blieb still. Im Stiegenhaus reiften die
elektrischen Dirnen zur Nachtbcleuchtung heran. War Alinde nicht
mehr heimgekommen? Floh sie vor ihm? Hüllte sich seine Landschaft
in Nebel? Wich dieser Frühling vor ihm zurück?-

Jäh drehte er um — und rannte dem Theater zu. Denn schon war
cs an der Zeit, in der sich der Vorhang vor seiner Dichtung in die
Höhe hob. Alinde mußte aus der Szene stehen ...! Den Portier am
Bühneneingang überging er, lief an ihm vorbei — wie ein U-Zug an
einem hochgezogencn Einfahrtssignal. Denn der Dichter Alex sah nur
mehr sie, seine Landschaft „Alinde", die kein Atlas aufzählte — und

doch ihm gewisser schien, als jeder Alpensee und alle Spitzen der Berge,
die in Tiefe und Höhe aus den Fuß genau bekannt waren ... Ja, sie
brannte in ihm .. .!

In des Bühnenhauses Halbdunkel drang er mit angehaltenem Atem
ein. Die Feuerwehr in den Kulissengassen drehte automatisch die Köpfe
nach ihm. Der Theatermeister wollte ihm wie gewohnt seine grüßenden
Hände entgegenhalten. Er schob sie zurück —- als Schnee über Veil-
chen . . . Uberrannte Versatzstücke, wurde zum Sturm, der über ein
träumendes Idyll hinfegt-. und stand mit Mantel und natura-

listischem Straßenstaub mit einem jähen Sprung inmitten der ostencn
Szene, inmitten seines Stückes, seiner romantischen Komödie-

Alinde stand, ganz Dame kostümierter Zeiten, im Monölicht und
sprach des Dichters Worte in den dunklen Raum des ausverkauften
Theaters hinein ...

Und schon stand Alex vor ihr. In seinen Augen lag zersprungenes
Licht, — Strahlen, die nach innen gingen. Daß er ihre Stimme in
dieser leinwandparsümierten Umwelt hörte, daß er sie — seinen Früh-
ling, in eine Welt von Pappe gestellt sah, das schlug zwei Welten
gegeneinander. Und klirrend, wie zerschlagenes Glas fiel er ihr zu
Füßen ...

Im Zuschaucrraum gab eS einige Sekunden, während derer dieser
Zwischenfall als zur Handlung gehörig und originell empfunden wurde.
Bis mit einem Ruck das Hereinplatzen peinlichster Wirklichkeit zu
tragischer Bewußtheit aufstieg.

Sitze hörte man zurückklappen, jemand — der den Dichter erkannte,
schrie aus. Oben stürzten Bühnenarbeiter fassungslos auf die Szene
... der Vorhang stel wie bei Feuersgefahr als Blitz hernieder — und
riß den Ruf des Dichters: „Alinde, du meine Wiese ...!" in zwei Stücke.

Aerzte kamen aus die Bühne. Und fanden den Dichter ohne Zu-
sammenhang mit der umgebenden Wirklichkeit. .. Seine Hände waren
in streichelnder Bewegung -— als glätteten sie Wellen eines Sees —-
und dann wieder: als pstückten sie Blumen auf einem Körper ...

klnd dieser Traum wich nicht mehr aus ihm. Alinde saß in ihrer
Garderobe und schminkte sich. Des Dichters Komödie aber wurde vom
Spielplan für immer abgesetzt...

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Rudolf Schlichter: Maitag
 
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