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3 3. JAHRGANG

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VON ERNST KREUDER

Maramont sah mich eine Weile angestrengt aber ganz in Gedanken
verloren an —, er stieß nervös die Fingerspitzen seiner langen braunen
Hände gegeneinander, rückte an seiner Brille und fragte plötzlich, mit
seiner hastigen Stimme, ohne Uebergang: „Kennen Sie diese unerträg-
liche Unentschlossenheit, die uns zuweilen vor einem Ereignis überfällt,
von dem wir bis zu diesem Augenblick nicht das Geringste wissen
konnten?"

Ich überlegte, ob er etwas von mir wissen wollte, oder ob er nur
etwas zu erzählen hatte. Er lächelte und ergänzte: „Ich verstehe, Sie
können nicht sogleich im Bilde sein, aber es fiel mir gerade ein."

„Vermutlich kenne ich diese Unentschlossenheit doch," erwiderte ich,
„ich entsinne mich aber jetzt nicht, daß ihr besondere Ereignisse zu folgen
pflegten. Wenn es zwischen unseren vielen Gewohnheiten zu einer Art
Kurzschluß kommt, wird wohl der Instinkt die Ursache sein."

„Jawohl, ausgezeichnet, der Instinkt, obwohl man den schlecht unter-
suchen kann. Oder wissen Sie etwas über Ihren Instinkt?" Mara-
mont lachte. — Dann veränderte sich wieder sein Gesicht, es verfiel
gleichsam, und er sprach stockend: „Ich kann eS Ihnen ja an einem
Beispiel demonstrieren, an einem ,Fall) Geben Sie acht." Er trank
einen Schluck Wein und zündete sich eine Zigarette an.

„An einem Augusttage kehrte ich aus der Schweiz zurück. Da es
mir am Bodensee gut gefiel, blieb ich noch einige Tage. Freitag
mittags bestieg ich den Abendschnell-
zug in Friedrichshafen und dachte
am Abend zu Hause zu sein. In
Ulm gab es einen längeren Auf-
enthalt. Ich benützte die Unter-
brechung, um Zeitungen zu kaufen
und um mich etwas auf dem Bahn-
steig umzusehen. Es war gegen drei
Uhr nachmittags. — Ich betrachte
mir gern die Reisenden in den Bahn-
höfen und auf den Bahnsteigen. Die
Leute sind in diesen Stimmungen
sehr interessant, sie zeigen in der
Eile, welches Benehmen sie haben
und wie sie inwendig sind; es wird
sozusagen ohne Regie gespielt...

Ich glaube, wir hatten eine halbe
Stunde Aufenthalt. Nach zwanzig
Minuten wurde ich plötzlich sehr
unruhig und bekam Herzklopfen. Es
liegt gar kein Grund vor, weshalb
du jetzt unruhig wirst, sagte ich zu
mir, wir werden gleich weiterfahren.

Die Unruhe nahm indessen rapid zu j/
und verwandelte sich in jene uner-
trägliche Unentschlossenheit, von der
ich vorhin sprach. Ich glaube, Sie /
sagten Kurzschluß, ausgezeichnet; ich
hatte sozusagen einen Kurzschluß
bekommen. Es war so: ich stand
plötzlich vor meinem Abteil und
konnte mich nicht dazu enschließen,
nicinen Koffer herauszuholen, um
die Fahrt zu unterbrechen und die Porträtstudie

Stadt zu besuchen. Ich wünschte eS und konnte eS praktisch nicht, ja,
ich geriet in einen rauschähnlichen Zustand, in dem ich keine Willens-
handlung mehr erreichte, ich starrte nur gelähmt auf das Kupeefenster.
(Eine psychologische Aenderung gibt eS in dieser Situation von innen
heraus nicht.) Da rief ein Schaffner in meiner Nähe .Platz nehmen!)
Türen wurden zugeschlagen, es wurde gepfiffen. Die Lokomotive zog an.
Sie kennen den Ruck, der sich von Wagen zu Wagen fortpflanzt. Als
er meinen Wagen erreichte, sprang ich auf, stürmte in mein Abteil,
riß den Koffer herunter und sprang aus dem fahrenden Zuge wieder
hinaus. Behalten Sie bitte diese Szene, sie war das Vorspiel einer
seltsamen Nacht.

Der Zug fuhr fort, ich ging in die Stadt, fand ein schönes Zimmer,
wusch mich und suchte den Dom auf." „Ich kenne Ulm", unterbrach
ich Maramont, um ihm die Schilderung zu ersparen.

„Sie kennen eö. Gut. Ich war nun, nach meiner Ansicht, ohne
eigenes Verschulden in dieser Stadt und trieb mich mit indifferenten
Gefühlen darin herum. Kaufte zum Beispiel einen Rasierpinsel, nur
um etwas zu tun. Als es dunkel wurde, aß ich in meinem Hotel zu
Nacht, betrachtete die .Illustrierten' und ging dann auf mein Zimmer,
um wenigstens einen Brief zu schreiben. Diese Beschäftigung crwieö
sich noch immer als tröstlich.

Es kam, daß ich an Helene schrieb. — Entschuldigen Sie bitte, ich

sehe, daß ich Ihnen etwas ' über
Fräulein Matthieffen sagen muß,
damit Ihnen das Folgende begreif-
lich wird. Helene Matthieffen war
eine junge Dame aus Köln, eine
Freundin —-, aber ich kann natürlich
offen sein: Es war eine vollendet
.unglückliche Liebe) von der mich
diese Reise in die Schweiz lösen
sollte. Daß ich nicht losgekommen
war, bewies der Brief, den ich ihr
an diesem Abend, mitten in der
Rückkehr, schrieb."

„Pardon," unterbrach ich Mara-
nwnk, „eine unglückliche Liebe — ich
verstehe nicht ganz, vielleicht —"
„Schön," sagte Maramont, „Sie
verstehen aber, wenn ich Ihnen
sage, daß ich diesem herrlichen Ge-
schöpf auf Tod und Leben verfallen
war. Sie versagte sich mir, obwohl
sie beteuerte, keinen anderen zu
lieben; dies konnte schon ein wenig
den Verstand kosten; Augenschein-
lich liebte sie also niemanden. Ist
das deutlich? — Als der Brief
geschrieben war, las ich ihn noch
einmal, verschloß ihn und riß ihn
plötzlich mitten durch. Sagen wir:
In einem Aufruhr von Scham.
Vielleicht gehört Scham zu den Ur-
sachen einer unglücklichen Liebe, als
Primat. Nahm meinen Hut, löschte
E. Fritsch das Licht, öffnete die Türe und
Register
Ernst Fritsch: Porträtstudie
Ernst Kreuder: Maramont, oder über Zusammenhänge
 
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