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Am Bahnhof Montparnassc I W. Schülcin

wollte hinunter. Auf der Schwelle fuhr ich zusammen, als hätte mich
jemand plötzlich erschreckt."

Maramont machte eine Pause, er war erregt. Er hob sein Glaö
und lächelte mir verloren zu.

„Eine junge Dame", fuhr er fort, „verließ in diesem Augenblick aus
der anderen Seite des erleuchteten Flurs ihr Zimmer. Sie blieb vor
der Türe eines Zimmers, welches dem meinen gegenüber lag, stehen
und klopfte leise an. Dann öffnete ste, verhielt aber eine Sekunde,
wie es schien, erschrocken, den Rücken mir zugekehrt. Daraus trat sie
ein und schloß rasch die Türe. Mein Herz klopfte bis zum zerspringen.
Ich ging in mein Zimmer zurück und setzte mich auf einen Stuhl. —-

Als ich ruhiger geworden war, begann ich vor mich hinzureden. Das
war also Helene Matthiessen, sagte ich, hier in Ulm. — Sie klopfte
abends um neun Uhr an ein fremdes Zimmer und trat rasch ein. Die
Art, wie sie zu diesem Zimmer ging und anklopfte, kannte ich noch
nicht an ihr ... Nicht wahr, Sie sehen, daß es unter diesen Umständen
ein außerordentliches Ereignis für mich war. Ich durfte schon beinahe
an seiner Wirklichkeit zweifeln. Daß sie eS war, Helene Matthiessen
aus Köln, das war so wenig zu widerlegen wie mein Aufenthalt in
Ulm. Ich versuchte natürlich, mir einzureden, daß ich mich getäuscht
hätte, es konnte sehr gut ihre Doppelgängerin sein, das gibt es doch.
Und so fort, aber vergeblich. Sie wissen zudem, daß der Liebende auf
eine besondere Weise sieht und behält. — Da saß ich nun im Dunkeln
auf dem Stuhl, durcheinandergeraten, Zerschossen', wie man sagt, und
wiederum wie einer, der jetzt zum Aeußcrsten entschlossen ist und gar
nichts tut.

Ich tat doch etwas. Ich verließ das Hotel und ging in den ^Winter-
garten'. Dann in die Bar, Whisky. Betrunken wurde ich nicht, aber
die Niedergeschlagenheit fraß mich schon langsam aus. Jetzt bist du
auch einmal in Ulm gewesen, meinte ich einige Male. In Ulm ...
Gegen Morgen ging ich ins Hotel zurück. Nun kommt die zweite
Ueberraschung, Attention! — Der Schlüssel an meiner Türe steckte,
ich hatte vergessen, ihn unten abzugeben. Als ich eintrat, brannte das

Licht und Helene Matthiessen saß am Tisch vorm Fenster, ihr Kopf
lag aus dem Tischtuch. Sie schlief.

Helene Matthiessen saß nachts in meinem Hotelzimmer in Ulm und
schlief. Ich habe nicht vergessen, wie es mich damals mitnahm. Tumult
und Umsturz, ein kleiner Aufstand im Individuum ... Als ich die Türe
schloß, in der Erregung schloß ich sie etwas heftig ■—, erwachte sie und
sprang auf. Ihr Gesicht war jetzt ein wenig entstellt von Schlaf,
Erschrecken und Scham. Oder war es Angst ... Sie sah leidend aus,
ich wollte reden, um dies nicht länger auszustehn, aber ich war körper-
lich unfähig, zu sprechen. Da ging sie auf mich zu, sie trat ganz nahe
an mich heran, und unischlang mich. Und während sie mich küßte,
weinte sie. Sie küßte mich zum ersten Male.

Damit hatte sie sich nun ausgegeben. —

Das weitere möchte ich nicht erzählen. Eines müssen Sie noch er-
fahren. Sie hatte mich im Spiegel gesehen, in jenem Augenblick, da
sie vor meinen Augen in das fremde Zimmer trat. Sie entsinnen sich,
ich sagte vorhin, daß ste eine Sekunde wie erschrocken aus der Schwelle
stehen blieb. Der Spiegel, der sich in jenem Zimmer befand, hatte mich
ihr gezeigt, wie ich reglos in der Türöffnung meines dunklen Zimmers
stand. Es fiel vom Flur her wohl noch genügend Licht auf mich. Sie
hatte dann später mein Zimmer ausgesucht, hatte den zerrissenen Brief
gelesen und war während des Wartens eingeschlafen. Wer in dem
fremden Zimmer war und was ste dort tat, wollte ich nicht erfahren.
— Sie war in jener Nacht sehr gut zu mir ... Vier Wochen später
starb sie an einer Lungenentzündung."

Maramont trank sein Glas leer und stand auf. ,„Noch eine Frage,
Maramont", bat ich. „Bitte", sagte er müde.

„Weshalb war die Dame in Ulm? Sie wohnte doch in Köln?"

„Ein Freund ihres Vaters", erwiderte Maramont und sah an mir
vorbei zu den Fenstern, „hatte sie eingeladen, die Semesterferien dort
zu verbringen, das wußte ich damals auf dem Bahnsteig ebensowenig
wie Sie, als Sie soeben danach fragten. Aber vielleicht denken Sie
einmal später über diese Zusammenhänge nach. Gute Nacht."
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Julius Wolfgang Schülein: Am Bahnhof Montparnasse
 
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