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JUGEND

33. JAHRGANG 1928 / NR. 46

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ERZÄHLUNG VON Ä. S. GREEN

Illustriert vo

Solange die Bewohner der Kolonie von Canterville in den Sümpfen
herumwateten und Baumstümpfe auSrodeten, auf deren Schnittfläche
gut sechs Personen mit baumelnden Beinen hätten Platz finden können,
solange sie mit der groben Stillung ihres Hungers, mit dem Kampf
gegen die unseßhaften Elemente des Landes und dem Einrammen von
Pfählen als Fundament für ihre künftigen Behausungen beschäftigt
waren — hätte selbst der strengste Sittenapostel sie nur der leiden-
schaftlichen Vorliebe für Kraftausdrücke überführen können.

Als die Häuser erbaut, die Felder gepflügt, Schilder mit allerhand
Aufschriften: „Schule", „Wirtshaus", „Gefängnis" und dergleichen
mehr angebracht waren und das Leben langweilig-nützlich dahinfloß,
wie das im Drainagerohr eingefangene Wasser, — da begannen die
Ereignisse. Die Aera der Geschehnisse erössnete der klassisch geizige
Glarin, indem er an den verschwenderischen, lebenslustigen Petagru
alles verspielte, was er befaß: Haus, Pferde, Kleider, landwirtschaft-
liche Maschinen und nur, was gewaschen zu werden pflegt, am Leibe
behielt.

Darauf gab es Diebstähle, eine Testamentssälschung und eine Bar-
rikade an der Straßenkreuzung, als drei Tollköpfe das Anrecht auf
ihre Parzelle mit der Magazinpistole in der Hand verteidigten; einer
von ihnen wurde mit fest zwischen den Zähnen eingeklemmter Zigarre
tot aufgelesen. Einem Mann lief seine Frau davon; zu einem anderen,
der eine sehr schöne Freundin und zwei kleine Kinder hatte, kam aus
dem fernen Westen eine weinende, vornehm gekleidete Frau hergereist;
sie hatte prachtvolle, nagelneue Lederkosfer und rotbraunes Haar. Das
letzte, was die starkknochigen Frauen und die bärtigen Männer von
Canterville in Empörung versetzte — die, nebenbei bemerkt, im Lause
der acht in Auswandererzelten verbrachten Monate alle Herrlichkeiten
des derben Flirts ausgekostet hatten —, war die schmähliche, eines
ordentlichen Menschen unwürdige Entführung des reizenden Mädchens

Max Kellerer

Daify Croc. Sie war sehr hübsch und still. Wer sie lange ansah,
hatte die Empfindung, als würde fein ganzer Körper in ein zitterndes,
lichtes Spinnengewebe eingesponnen. Daisy hatte viele Verehrer,
entführt aber wurde sie von Goan Gnor, an einem Abend, als in
der staubigen Perspektive der vom Sonnenuntergang beleuchteten
Straße schwer zu erkennen war, ob die von der Tränke zurückkehrenden
Stiere aneinander geraten waren oder ob einem Mädchen der Mund
init der Hand zugedrückt und die Gefangene aus den Sattel gehoben
wurde. Goan war übrigens immer höflich, obwohl er einsam lebte,
was ja bekanntlich zur Grobheit geneigt macht. Um so weniger hatte
jemand von diesem Manne eine so tolle Tat erwartet.

Eines steht unumstößlich fest, daß Goan eine Woche vorher auf
einem Ball lange und leise mit dem Mädchen gesprochen hatte.
Leute, die ihn hierbei beobachteten, sahen, daß der junge Mensch
mit traurigem Gesicht, blaß und fassungslos öastanö. „Ich liebe
niemanden, Goan, glauben Sie eö mir", hatte das Mädchen gesagt.
Eine Frau, die diese Worte gehört, befand sich jetzt drei Tage lang
aus dem Gipfel der Seligkeit: diesen Satz gab sie mit den ver-
schiedensten Intonationen und Kommentarien wieder. Goans Pferd
raste den Waldrand entlang, stolperte über eine Wasserrinne und
brach sich ein Bein. Genau eine Stunde nach Begehung des Ver-
brechens wurde der Entführer gefaßt.

Die berittene Menge, die sich an der Stelle ansammelte, loo das
Pferd gestürzt war, drängte sich so dicht zusammen, daß man in
dem wütenden Hände- und Rückengewirr nichts erkennen konnte.
Schließlich löste sich der Kreis, und das ohnmächtig daliegende
Mädchen wurde in die Büsche getragen. DaisyS Brüder, ihr Vater
und ihr Onkel schlugen schweigend auf den vom Pferd zu Boden
gedrückten Goan ein, dann entfernten sie sich, müde, schwitzend und
mit glänzenden Augen, indes sich von der Erde die zerschundene Gestalt
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Alice Stopford Green: Der Schandpfahl
Max Kellerer: Illustration zum Text "Der Schandpfahl"
 
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