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eines blutspeienden Menschen erhob. Große blutunterlaufene Flecke
bedeckten Goans Gesicht, er sah erbärmlich und furchtbar aus, er
taumelte und krächzte etwas, was sich wie Worte anhörte.

Die unoollkommene Rechtspflege öder Gegenden, die in diesem Falle
keinen unmittelbaren Anlaß hatte, Goan des Lebens zu berauben, zog
ihn nichtsdestoweniger wegen schwerer Beleidigung der Familie Croc
und deS Mädchens zur Verantwortung. Nach langem Lärmen und
Streiten wurde vor dem Wirtshaus ein Holzpfahl in die Erde
gerammt und Goan darangebunden, indem man ihm die Arme auf der
Rückseite des Pfahles fesselte; so mußte er vierundzwanzig Stunden
lang ohne Wasser und Nahrung zubringen, um sich dann irgendwohin
aus dem Staube zu machen.

Goan ließ diese ganze Prozedur über sich ergehen, wobei er sich wie
eine vergiftete Fliege bewegte. Er schwieg. Die Tonangeber von
Eanterville und die übrigen Neugierigen be-
gaben sich in eine angemessene Entfernung,
betrachteten das Werk ihrer Hände — und
verstreuten sich langsam in die Häuser.

Es wurde dunkel. Goan leckte die zer-
schundenen, an den Zähnen klebenden Lippen
und überlegte einen Racheplan. In seiner
Seele war alles leergebrannt, er empfand
weder Scham noch Wut; innerlich verheert,
suchte er sich nur in Erinnerung zu rufen, wer
ihn geschlagen hatte und in welcher Weise,
wessen Rede grimmiger und wessen Stimme
lauter gewesen war. Das erforderte viel
Kraft, und Goan ermüdete bald; da dachte er
daran, daß er Daisy nie wieder sehen würde.

Er erinnerte sich der wonnigen Last ihres
erbebenden Körpers, des hastigen PochenS
ihres Herzens, das in diesen wenigen Minuten
an seiner Brust schlug, deS zurückgeworfenen
Kopfes und seines einzigen Kusses auf jene
Stelle, wo sich auf ihrer Brust ein Knopf
geöffnet hatte. Und er schrie stöhnend aus
vor unersättlicher Sehnsucht, spannte die
Arme an; die Stricke versengten die Haut
seiner Gelenke. Noch eine Nacht stand ihm
bevor und ein ganzer Tag!

Goan trat von einem Fuß auf den anderen. Hin und wieder machte
er den Versuch, sich vorzutäuschen, daß alles nur ein Traum sei, warf
den Kopf zurück und zerschlug die Illusion, indem er mit dem Nacken
gegen den Pfahl stieß. Seitwärts ertönten schleichende Schritte; die
Lichter in den Fenstern verloschen; hänstg stehen bleibend, näherte sich
Goan eine undeutliche Silhouette, und der Bestrafte loderte plötzlich
auf, errötete in der Dunkelheit bis an die Haarwurzeln; die Schläfen-
adern schwollen an vom hämmernden Blut. Betäubende Scham
ertränkte GoanS Vernunft; stöhnend schloß er die Augen und öffnete
sie sofort wieder. Das traurige Antlitz DaisyS blieb mit weit
ausgeschlagenen Augen ganz dicht vor ihm stehen, aber er konnte ihr
nicht die Hand entgegenstrecken, sie um Nachsicht bitten.

„Auch Sie ... um mich so zu sehen", sagte Goan leise. „Gehen Sie,
verzeihen Sie mir!"
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Max Kellerer: Illustrationen zum Text "Der Schandpfahl"
 
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