34. JAHRGANG
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ie Qeibe (/acKe
VON G. GÜNTHER
Xfmg^ang verbeugte sich vor der kleinen
Tänzerin Anita. Er sah sie mit seinen Schlitz-
augen von der Seite an und sagte: „Sie
gefallen mir." Er blieb völlig ernst dabei.
Anita lächelte. Oer Fremde interessierte sie.
Immer liebte sie das Fremde. Immer liebte
sie das Abenteuer. Einmal war sie eine Ge-
heimratStochter gewesen. Sie war davon-
gelaufen. Einmal sollte sie Künstlerin werden.
Nun tanzte sie in einen, Cabaret. Einmal
dachte sie, daß junge Mädchen heiraten. Jetzt
sah sie sich nach einem Liebhaber um. Anita
war sehr hübsch, jung, gertenschlank und
braun. Wie ein schmaler Knabe.
Anitas Nummer war vorüber. Im ein-
fachen Kostüm mit einem kleinen roten Hut
kam sie an den Tisch Tsing-Io-LangS, der
sogleich ausstand und bezahlte. „Wollen wir
noch auSgehn?" Er hatte es nur aus Höf-
lichkeit gefragt, denn er hatte keinerlei Lust
dazu. Er hatte ganz andere Pläne mit der
kleinen Tänzerin. Anita aber sagte „Ja!"
Tsing fuhr mit ihr in einen Spielklub. Sie
wunderte sich, daß man ihn dort so gut
kannte. Es wurde ihr beinahe unheimlich,
als Tsing zu einen, der Tische trat, an dem
Roulette gespielt wurde. Er setzte eine Zahl
und hielt dabei Anitas Hand in der seinen.
Die Zahl kam, und Tsing erhielt eine große
Sun,me. Tsing steckte sie gleichmütig in die
Tasche. Als er jedoch Anitas gierige Augen
sah, gab er sie, ohne mit der Wimper zu
zucken, seiner Begleiterin. Er setzte nicht mehr.
Er ging durch die Säle und genoß, daß man
ihn um Anita beneidete. Sie aber hatte
keinen Blick für alle Blicke, die auf sie zu-
kamen. Sie sah ein wenig scheu und ein
wenig bewundernd Tsing an. In der Bar
tranken sie zusammen, und sie hoffte, er würde
nun sprechen. Er trank jedoch schweigend.
Als sie aufstand, fühlte sie seinen Blick. Bei-
nahe hypnotisch hing er sich in den ihren.
„Wirst du mich lieben können, kleine Anita?"
Sie nickte willenlos.
Anita trat nicht mehr im Cabaret auf.
Sie lebte bei Tsing-Io-Lang. Er hatte drei
Zimmer, in asiatischem Stil ausgestattet.
Viele Kiffen. Viele Teppiche. Und jedes
Zimmer besaß einen eigenen Buddha. Anita
konnte sich schnell umstellen, und so fühlte
sie sich bereits als Asiatin. Sie lief in kleinen
Pantöffelchen mit hohen Absätzen und trug
asiatische, schwere Gewänder.
Aber vor den Buddhas fürch-
tete sie sich. Sie hatte die
Empsindung, daß die Buddhas mit ihrer
ungeheuren, schweren Gestalt aufstehen könn-
ten und sie erdrücken. Tsing hatte sich nicht
verändert. Er war aufmerksam und schweig-
sam. Nur manch,,,al, wenn Anita ihn nicht
ansah, fühlte sie seine Blicke. Dann hätte
sie schreien mögen. Sie kannte Tsing nicht.
So hätte sie das gewünschte Abenteuer ge-
habt. klnd doch wäre sie fortgegangen, ohne
das Abenteuer zu Ende zu erleben, hätte sie
gekonnt. Sie liebte Tsing nicht. Sie wußte
also nicht, welches Gefühl sie an ihn kettete.
Es wurde von Tag zu Tag schlimmer mit
Tsing. Wenn er nach Hause kam, hatte er
noch ein europäisches Gesicht. Legte er aber
seine gelbe Jacke an, so war er gleichsam
wie mit einer Maske gepanzert. Dann er-
weckte ihn kein Kuß und keine Liebkosung.
Dann erweckte ihn auch kein Wort und kein
Telefon.
Eines Tages kam Tsing wie jeden Tag.
Aber es war das erstemal, daß er Anita
kein Geschenk brachte, daß er erregt war.
„Anita!" sagte er langsam und betont, indem
er ihr eine Banknote aushändigte, „es ist
besser, daß du mich verläßt." Anita sah ihn
mit großen, erschreckten Augen an und be-
wegte sich nicht von der Stelle. Sie reichte
ihm die gelbe Jacke. „Anita," sagte Tsing
sehr sanft, seine Stimme umwarb Anita wie
nie, „ich werde dir ein Scheckbuch geben mit
hohen Betrag, damit du keine Sorge
einem
Oie kleine Japanerin
leiden mußt." Anita warf sich schluchzend
an Tsingü Hals „Warum willst du mich los
fein, Tsing? Warum willst du mich nicht
behalten?" — Mit einem unergründlichen
Lächeln antwortete Tsing: „Man ist mir
auf den Fersen".
Anita war in ein kleines Hotel gezogen,
doch sie hatte Tsing ihre Adresse gegeben.
Sie hatte auch einen Treffpunkt ausgemacht,
wo Tsing sie erreichen konnte — wenn es ihn,
möglich war. Tsing hatte ihr nicht erzählt,
warum man ihn verfolge. Tsing hatte ihr
nichts erzählt. Dennoch beschäftigten sich ihre
Gedanken unaufhörlich mit Tsing. An, Abend
kam er zu dem Treffpunkt, er brachte ihr
seidene Wäsche niit. Am nächsten Abend kam
er wieder und legte ihr ein Goldkettchen um
den Hals. Den Abend darauf kam er nicht.
Anita wartete länger als eine Stunde auf
ihn. Jeder betrachtete das zarte, hübsche
Ding. Diele luden sie ein. Immer lehnte
Anita ab. Aber da mehr als eine Stunde
vergangen war und Tsing nicht wiedcrkehrte,
wurde ihr kleines Herz so schwer und traurig,
daß sie sich freute, als ein junger Bursch sie
aufforderte, mit ihm in ein Kaffee zu kommen.
Es war ein wenig Trotz dabei und die Angst
der Jugend, etwas zu versäumen. Der junge
Mann war nicht zufrieden mit Anita, denn
Anita plauderte wenig. Je länger sie das
nichtssagende Gesicht ihres Gegenüber ansah,
desto heftiger wurde ihre Sehnsucht „ach
Tsing. Die Musik spielte, und der junge
Mann bat Anita, mit ihm zu tanzen. Anita
tanzte. Dabei schien es ihr, als ob gerade,
als sie aus den, Fenster des Kaffeehauses
blickte, Tsing vorüber ging. Er sah völlig
europäisch aus. Er war sehr elegant und
hatte einen sorglosen Blick, den sie an dem
asiatischen Tsing nicht kannte. Sie ahnte
nicht, ob er sie bemerkt hatte. Aber.sie riß
sich von ihrem Begleiter los, ehe dieser es
hindern konnte. Sie lief aus dem Lokal.
Sie lief hinter jenem fremden Tsing her und
wurde ganz atemlos vom
Laufen. Schließlich erreichte sie
ihn. „Tsing-Io-Lang?" fragte
Scherenschnitt von E, M. Engert