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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 34.1929, (Nr. 1-52)

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Nr. 35
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https://doi.org/10.11588/diglit.6761#0560
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sie leise. Durch den Angeredeten ging ein
Zittern. Er setzte an wie zum Sprung. Dann
sah er Anita und lächelte erleichtert. „Kleines
Mädchen!" flüsterte er gerührt. Er machte
ihr ein Zeichen, ihm unauffällig zu folgen.

Sie hielten an einer eleganten Villa. Tsing
sah sich vorsichtig nach allen Seiten um.
Schnell klinkte er die Türe nieder. Anita
schlüpfte hinter ihm ins Haus. Sie hatten
noch kein Wort miteinander getauscht. Anita
inachte auch keinerlei Bemerkung, als sie sich
in europäischen Räumen sah. Sie starrte nur
Tsing an, der ihr ausnehmend gefiel. Seine
undurchdringliche Maske war fort und hatte
einer eleganten, selbstverständlichen Reser-
viertheit Platz gemacht. Anita wagte nicht,
ihm näher zu kommen. Aber Tsing hatte
ein gütiges Lächeln, ohne jede Begierde, als
er seine Arme öffnete und sagte: „Komm
Anita!" Drei Tage träumte Anita den Traum
des Glücks. Dann kehrte Tsing wieder heim
in der Maske des Asiaten und brachte sogar
seine gelbe Jacke mit. Er setzte sich mit
verschränkten Beinen auf ein Polster und
winkte Anita zu sich. Sie gehorchte. Unwill-
kürlich hatte sie wieder die dienenden Be-
wegungen einer Asiatin angenommen. Tsing
sprach und sah sie dabei nicht an. Er schien
in.it seinen Gedanken weit fort. Während er
sprach, zerdrückte er kleine Kügelchen und
bereitete seine Pfeife über einer bläulichen
Flamme. „Kleine Anita, ich danke dir, daß
du mich geliebt hast. Ich will dich glücklich
machen. So glücklich, wie ein kleines euro-
päisches Mädchen sein kann. Ich werde dir
Geld geben, damit du schöne Kleider tragen
kannst, in einem kleinen Auto fährst und eine
Wohnung mit Dienern hast —" Anita unter-
brach ihn: „Ich bin nur glücklich, wenn du
bei mir bist, Tsing. Ich habe mich verändert
durch dich." Tsing schien nicht zuzuhören.
„Ich bin nicht, der ich bin. Ich bin nicht,
der ich scheine. Ich habe zwei Naturen in
mir, Anita. Ich war ein Asiate, der dem
Kaiser nahe stand. Ich wurde Europäer.
Es ist ein Unglück, wenn Asiaten über den
Ozean kommen. Ich habe alles kennen ge-
lernt. Alles — bis auf die Liebe, die ich
bei dir fand. Ich bin ein Verbrecher, Anita.
In den Spielhöllen sucht man mich. Ich
habe ohne Bedenken Menschen Geld abge-
nommcn, so daß sie sich meinetwegen um-
bringen mußten. Man kennt mich in den
Nachtlokalen. wo ich, um mich zu betäubet,
jegliche Anforderung an die Mädchen stellte.
Ich habe nicht gestohlen. Ich habe nicht
erpreßt. Das alles war mir zu wenig. Ich
habe kürzlich einen Mann, der geringschätzig
von Asien sprach, erschossen. Ich war plötzlich
wieder Asiate geworden. Man ist mir auf
den Fersen, Anita. Aber hier sind wir sicher.
Menschen, die man wegen ihrer Abstammung
oder wegen ihres Geldes in ganz Europa
schätzt, haben mich, gerade mich, zum Freund
erwählt. Hier ist die Villa eines solchen
, Gönners'. Hierher kommt keine Polizei.
Wenn ich heute könnte, ich ginge nach Asien
zurück. Obgleich ich sicher bin, daß es mich
wieder hierher ziehen würde. Ich sagte dir
schon Anita, ich bin nicht mehr dies und bin
doch nicht das. Ich habe keine Wahl, Anita.

Vielleicht kann ich dich noch glücklich machen."
Er zog ein Buch aus der Tasche mit kostbar
gesticktem Einband. Der Name war nicht
mehr gut zu lesen. Man sah deutlich, daß
versucht worden war, ihn zu vernichten. Aber
Anita laS noch „Prinz". Tsing nahm Anita
in die Arme und küßte sie. Dann steckte er
ihr das Buch zu: „Hier hast du mein Ver-
mögen und mein Testament. Ich brauche es
nicht mehr." — „Tsing!" flehte Anita. Tsing
aber schob die kleine Anita, die heftig weinte,
auü der Türe. „Einen Augenblick", bat Anita.
Tsing zündete sich umständlich seine Pfeife
an, nachdem er sich in die gelbe Jacke gehüllt
hatte. Er stellte einen kleinen Buddha, den
er auS der gelben Jacke zog, vor sich. Dann
nahm er ein Messer, kunstvoll verziert, jedoch
mit scharfer Klinge. Anita hatte durch den
Vorhang beobachtet und schrie jetzt auf.
„Tsing, um Gottes willen, Tsing! o, ich bitte

Sie, ich beschwöre Sie!" Aber als Tsing mit
einem abwesenden Lächeln, ganz als asiatischer
Weiser, die Pfeife wollüstig im Mund und
das Messer ganz langsam immer näher
gerade auf sein Herz gezückt, sie nicht zu
hören schien, packte sie ein wahnsinniger
Schreck. Sie lief, wie gehetzt, davon. Drei
Tage trauerte sie um Tsing! Wie viel sind
doch drei Tage für ein kleines hübsches
Mädchen! Dann nahm sie das fremde ge-
stickte Buch und ging auf eine Bank, um
das Geld abzuheben. Die Bank verwies sie
an einen Anwalt, und der Anwalt beschäftigte
sich sehr eingehend mit diesem Buch. Er über-
gab es schließlich dem Gericht, das sogleich
die kleine Anita vorlud. Sie erfuhr dort, daß
ihr erster Scheck echt war. Daß dieses Buch
jedoch — gestohlen sei. Don einem wirklichen
asiatischen Prinzen, blnd daß man Tsing-Po-
Lang, wie sich ihr Geliebter nannte, heftig
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Karl Holtz: Im Spielsaal
 
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