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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 34.1929, (Nr. 1-52)

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Nr. 45
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J U G

3 4. JAHRGANG

END

1929 / NR. 45

TOTE?

VON HANS FRANCK

Jjn einem großen norddeutschen Museum befand sich vor dem
Weltkrieg ein Schauraum, der mit Skeletten von Urzeitmenschen
angefüllt, überfüllt war. Man hatte sich offenbar zum Ziel gesetzt,
den Besuchern durch die Totenreste einen möglichst lebendigen Ein-
druck von unfern Vorfahren zu übermitteln. Was man — ver-
streut und vereint — in Wäldern und Mooren, in Wiesen and
Äckern, in Hügeln und Bergen auf dem Gebiet des Stadtstaates
während vieler Jahrzehnte an Gebeinen gefunden hatte, war hier
zusammengetragen und nach wissenschaftlichen Grundsätzen her-
gerichtet worden. Auch alles das, was man an Waffen, Alltags-
geräten, Schmuck, Bekleidungsfetzen aus Gräbern hervorgewühlt
hatte, brachte man in den gleichen, halb unter der Erde gelegenen,
von Tageslicht kärglich bedachten Ausstellungssaal. Angehaucht
von modernen Museumsideen, hatte man sich nicht damit begnügt,
die Sachfunde reihenweise aufzustapeln, die Menschenüberbleibsel
zweckvoll zu ordnen. Sondern man setzte beide Fundgruppen mit-
einander in Beziehung. Gräber, Wohnungen, Naturausschnitte
wurden — angeblich wirklichkeitsgetreu — aufgeb aut und die Ske-
lette hineingegliederl; man muß schon sagen: hineinkomponiert. Da
lagen, saßen, hockten, standen also die Totengebeine neben, vor, in',
auf den Dingen aus ihrer Zeit. Das Ganze war —> nach mancher-
lei halblauten Ausrufen der nicht eben zahlreichen Besucher zu
schließen — überaus natürlich. Neckten doch sogar, damit man
einen anschaulichen Begriff von der inzwischen verlorengegangenen
körperlichen Größe unserer auSgestorbenen lllrvätervölker bekam,
einige der Gerippe die Arme zu Bäumen — selbstverständlich aus
ihrer Zeit — hinauf, als ob sie in dem Geästgeripp der toten Dor-
zeitgenoffen Früchte pflücken könnten und wollten. Aber während
die Dinge über die Jahrtausende Hinweg immerhin einen Schimmer
des einstigen Lebens bewahrt hatten, wurde — wenigstens für auf-
merksame Beobachter — bei den Skeletten gerade durch die sinn-
volle Aufstellung die Sinnlosigkeit ihres Herumstehens, ihres Zweck-
fpielens und Bewegungsvortäuschens doppelt sichtbar. Zumal zahl-
lose Schädel und Knochen, die man trotz aller Mühe nicht wieder
zu ganzen Menschen hatte zusammensetzen können, in Schränken,
Schüben, Kästen zur Schau gestellt waren.

Die schwierige, zeitraubende Säuberung der Skelette und Skelett-
teile nahm lange Jahre hindurch Morgen für Morgen ein aus-
gedienter Museumsbeamter vor. Dieser mehr als siebzigjährige
Greis, der in ihrer Mitte kaum noch durch anderes sich von ihnen
unterschied, als daß er Kleider trug und sich — statt wie sie zum
Schein — wirklich bewegen konnte, wagte in den Totenräumen
seinen Mund nicht aufzutun; so daß man — wenn draußen nicht
doch hin und wieder ein glotzäugiges Wort aus ihm heraufgekrochen
wäre — hätte annehmen können, ihm sei über seiner trübseligen
Beschäftigung die Sprache verlorengegangen.

Nachdem der Alte mit einundachtzig Jahren gestorben war, be-
schloß der viel verreiste Direktor eine Änderung des bisherigen muse-
alen Säuberungssystems. Es war nicht mehr zeitgemäß, mit GlaS-
scheibenputzen und Staubwischen Beamte zu befassen. Die Reini-
gung konnte, trotz eingestandener, allerdings in keinem anderen
Museum gleich großer Schwierigkeiten, während der Morgen-
stunden durchgeführt werden. Vor der Besuchszeit. blnd zwar
von Frauen. Gegen Stundenlohn. Das ergab Einsparung einer
nicht unbeträchtlichen Summe, die für Neuanschaffungen mit ver-
wandt werden konnte. Auch trug man damit dem unaufhaltsam
im Vormarsch befindlichen sozialen Gedanken von der Gleichheit der
Geschlechter gebührend Rechnung.

Die blmstellung der Museumssäuberung aufs Weibliche vollzog
sich ohne Reibung. Nur zur Säuberung des Saales mit den
birzeitskeletten wollte keine Frau sich verstehen. Wohl sagten
mehrere weibliche Wesen zu. Aber wenn sie auf der obersten Trep-
penstufe des Erdgeschoßsaales standen und zum ersten Male über
das Gerippgewimmel hinblickten, schüttelten sie den Kopf, riefen:
„Nee!", erklärten: „Lieber hungern!", wandten um und verweiger-
ten die zugesagte Arbeit. Zwei Beherzte machten damit tapfer
den Anfang: >,Ach ivas — graulen?" Nach einigen Tagen kamen
sie nicht wieder. Der Direktor ließ die letzte von beiden zu sich
kommen, bedeutete ihr in höchsteigener Person: daß und weswegen
ihr Verhalten unsinnig wäre, daß und warum diese Arbeit jeden
Morgen gemacht werden müsse, daß und weshalb dafür hinfort
nur eine rächt käme. Die B in einem fort
Register
M. Schunck: Scherenschnitt
Hans Franck: Tote?
 
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