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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 35.1930, (Nr. 1-52)

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Pariser Boulevard

Karl H o l tz

auS und ging draußen im Wind und im
Blättertreiben am Fluß spazieren, bis die
Sterne wieder da waren und die schwarzen
Kohlenschiffe die Lichter löschten. Auf solchen
Spaziergängen traf ich zuweilen einen Be-
kannten, der es zu einem klingenden Titel
gebracht hatte, und nur meine eingewurzelte
Schwermut konnte mich vor dem Neid be-
lvahren. Und einmal traf ich Fräulein Louise,
Mariannes Schwester.

Sie stand mit einem feinen Herrn am
Eingang einer Kastanienallee vor einer Bank,
und als sie mich vorüberkommen sah, kam sie
mir nach und rief mich an. So erfuhr ich,
daß Marianne krank sei und seit Wochen zu
Bett läge, und daß sie auch zuweilen von
nur gesprochen hätte. Zuletzt fragte sie mich,
ob ich sie nicht einmal besuchen wollte, sie
würde sich sicherlich sehr freuen. AuS Höflich-
keit versprach ich das und war froh, daß ich
jetzt mit meinen Tumulten allein war. Zu-
hause fragte mich der Onkel, ob ich krank sei,
denn meine Hände zitterten noch, als ich die
Gräten aus den Bücklingen entfernte, die wir
jeden Abend verspeisten.

Ihr wißt, wie alt das ist, man legt einen
Schwur gegen sich selbst ab und verdammt
sich zu allen Abgründen der Hölle, aber
schließlich geht man doch hin. Und es reute
mich nicht, als ich sie in den Kisten sah, sie
lächelte so freundlich und hell, daß ich meinte,
es sei mir ein großes Glück widerfahren.
Ihre Mutter faß im Zimmer, so daß wir
nur einfache Dinge reden konnten, aber ich
sah ihr doch oft in die Augen und ließ mich
ein wenig fortschwemmen von den Süßig-
keiten ihres Blickes. Und einmal schien eS
mir, als ob sie nicht mehr mit mir spiele,
als ob sie mich schon ein wenig gern ge-

wonnen hätte in dieser Viertelstunde. Da
geschah etwas Unerwartetes. Ihre Mutter
ging gerade hinaus, weil es geschellt hatte
und Marianne zog mich an der Hand herbei,
umschlang meinen Hals und küßte mich fest
und ruhig. Sie hatte ganz heiße Wangen.
Dann griff sie unter das Kopfkisten und holte
einen Schlüsselbund hervor. Sie konnte mir
noch sagen, daß ich um acht Uhr kommen
sollte, als ihre Mutter zurückkehrte.

Ihr könnt euch denken, wie mir der
Schlüsselbund in der Tasche brannte. Der
Nachmittag wollte nicht herumgehen, und ich
konnte kaum mein Glück vor dem Onkel ver-
bergen, der mich vom Aquarium her still
beobachtete. Um sieben Uhr schon verließ ich
das Haus, es ging ein stürmischer Wind, der
die Blätter durch die Gassen fegte, und als
er nachließ, sing es mächtig zu regnen an.

Großstadthäuser nachts sind einsam,
Stehen starr in einer Wüste,

Ohne Meer und ohne Küste.

Kalt und leblos und verloren.

Helle Fenster sind Geschenke,

Auch wenn sie ein Leid geboren.
Hinter dunklen Mauern Rümpfe,
Die in schweren Schlaf versunken.
In den Haustüren Seidenstrümpfe,
Und ein heller Liebesfunken
Sprüht aus einem Mädchenlachen,
Klirrt ein Schlüssel. Seltsam leer
Brüllt ein Auto in der Ferne,

An dem Himmel hell die Sterne
In der Nacht sind kahl und schwer.
Hanns Lerch

Der Himmel hatte sich mit dunklen Wolken
überzogen, es brannten schon ibde Laternen, als
ich durchnäßt vor Mariannes Wohnung an-
kam. Ich stieg das dunkle Treppenhaus empor
und horchte ängstlich an der GlaStüre. Es
war drinnen still. Dann schloß ich auf und
trat ein. Im gleichen Augenblick rief sie
meinen Namen. Ich hängte mein nasses Zeug
über einen Schirmständer und ging zu ihr
hinein. Zuerst konnte ich sie nicht recht er-
kennen, denn es brannte nur ein kleines Nacht-
lichtchen und hielt das Zimmer in schwachem
Dämmer. Dann mußte ich das Nachttischchen,
auf dem eS von Reseden, Trauben und feinem
Parfüm duftete, wegrücken, damit ich ganz
nahe bei ihr sitzen konnte. Don draußen
plätscherte der Regen an die Scheiben. Oh,
sie war nicht mehr so krank, sie durfte morgens
schon ein wenig aufstehen und brauchte keine
Arznei mehr zu nehmen. Ich war wieder ganz
verliebt in sie,ich durfte meinen Arm unter ihren
Kopf legen und sie behutsam küssen, blnd sie
erzählte mir flüsternd Dinge ins Ohr, die
mich irrsinnig glücklich machten. Plötzlich
drückte sie meine Hand an ihre Brust und
zog die Decke darüber. Meine Hand auf der
warmen feinen Brust war kalt und zitterte.
Da fragte sie, ob ich mich nicht ein wenig
wärmen wollte bei ihr.

Das folgende vollzog sich entsetzlich rasch.
Es hatte draußen bei ihren letzten Worten
heftig geklingelt, wiederholt, es war ein be-
stimmtes Signal. „Das ist Bruno", sagte sie
schwer. Sie verließ dann mit N?ühe das Bett,
zog Pantöffelchen an, hängte sich einen
Mantel um und ging unbeholfen hinaus,
während ich in das Nebenzimmer treten
mußte, sie hatte mich darum gebeten. Im
dunklen Nebenzimmer lag etwas Laternen-
Register
Karl Holtz: Pariser Boulevard
Hanns Lerch: Großstadtstraße nachts
 
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