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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 35.1930, (Nr. 1-52)

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1


oniuiianon um

VON LEO

iierna

[Li

„Stefan!"

„Bitte?"

„Bringen Sie mir diesen Brief noch zum Hauptpostamt; -ich möchte,
daß er bei der Frühbestellung morgen ausgetragen wird."

„Jawohl, Herr Doktor. — Soll ich das Tor hinter mir ab-
schließen?"

„Nein, Stefan! — Schließen Sie erst, wenn Sie zurückkommen.
Ich bleibe wach und lese noch eine Stunde. — Wieviel blhr >ist eS?"

„Zehn vor Zwölf."

„Danke! — Mit leisen Dienerschritten geht Stefan hinaus. Die
Tür knarrt ein wenig. Dann ist Stille um mich.

Im engbegrenzten Lichtschein der Schreibtischlampe leuchtet in Grün
und Gold ein schmaler Band:

Blüten des Pali-Kanon, blralte
Weisheit. — Ich blättere ver-
sonnen und lese mit halber Auf-
merksamkeit eine Stelle aus der
Mahasamudda-Sutta:—„Gleich
wie das Weltmeer nicht in Ge-
meinschaft mit Totem lebt, wie
es das, was es im Weltmeer an
Totem gibt, gar schnell zum blfer
hin abführt, aufs feste Land
treibt, ebenso auch..."

Wieder knarrt die Zimmertür.

— — Vergaß Stefan, sie zu
schließen?

„Verzeihen Sie!" — sagt plötz-
lich hinter mir eine fremde
Stimme, so rauh, daß ich wie
unter einem unsichtbaren Hieb in
nnch zusammensinke. „Verzeihen
Sie, daß ich um diese ungewöhn-
liche Stunde und unangemeldet
bei Ihnen eindringe. — Ich sah
Ihren Diener fortgehen, das Tor
stand osten und — es handelt sich
um ein Menschenleben!"

Ich lausche den heiseren Wor-
ten, die sich eintönig folgen, als
seien sie mühsam eingelernt. —

Weshalb springe ich nicht aus
und weise dem frechen Eindring-
ling die Tür? — Etwas hält
mich zurück, etwas, das in dieser
Stimme mit schwingt und wie
voller Angst ist.

Das erste Erschrecken gleitet
ab von mir und weicht einem
ruhigen Erstaunen. Langsam er-
hebe ich mich und wende mich um.

^Zwischen der Tür und mir, in
der Mitte des dämmerdunklen
Raumes steht ein Mann, hoch-

Zewachfen, breitschultrig, gut ge- N ä ch k l i ch e r Besuch

A IVI B R U H L

kleidet, soweit ich fcststelle; sein Gesicht, vom Lampenschein beschattet,
ist wie Bronze.

„Es handelt sich um ein Menschenleben?" frage ich.
„Wahrscheinlich", antwortet der mitternächtliche Gast, „ist die Ent-
scheidung schon gefallen. Aber ich bin nicht sicher. Deshalb komme
ich zu Ihnen."

„blnd was wünschen Sie, das ich tun soll?"

„Nichts! — Nur um eine Auskunft bitte ich Sle! — Nicht einmal
um einen Rat. — Kurz, ich glaube, daß ich . . . krank bin."

„Ihr eignes Leben also ist gefährdet, wenn ich recht verstehe. Sie
glauben, daß Sie krank sind. — Aus welchen Gründen aber kommen
Sie dann zu mir? — Ich bin kein Arzt."

„Ich suche keinen Arzt. Ich
will nur eine Bestätigung, daß
ich krank bin. — Bin ich es, dann
hilft mir auch der Arzt nicht."

„bind weshalb befragen Sie
mich?"

Der Fremde senkt den Kopf
und sagt dumpf:

„Ich fürchte, daß mich ein
anderer nicht verstehen wird und
—. — idaß er mich vielleicht des-
halb belügt. Sie aber werden
die Wahrheit sagen."

„Sie haben großes Vertrauen
zu einem blnbekannten."

„Es ist kein Vertrauen."
„Sondern?"

Statt einer Antwort spricht
der Eindringling:

„Lassen Sie mich hier stehen
und Ihnen eine Geschichte er-
zählen."

„Wollen Sie nicht sitzen?"
Ein scharfes „Nein!" entfährt
dem seltsamen Gast wie ein
Schrei.

Ich will sprechen, aber ich
spüre, daß mir die Dual, die dort
in dem fremden Mann ist, die
Kehle umklammert hält. Nur
eine auffordernde Geste gelingt
mir. Dann sinke ich in meinen
Sessel zurück.

„Ich weiß", beginnt der Un-
bekannte, „daß Sie lange im
Ausland gelebt haben, in Bra-
silien, in Westindien, in Guyana.
Sie werden also gewiß praktische
Kenntnisse haben, die ich bei den
hiesigen Ärzten nicht voraussetzen
kann."

„Demnach eine Tropenkrank-
R. W i r t h heit", werfe ich erleichtert hin.
Register
Rudolf Wirth: Nächtlicher Besuch
Leo Am Bruhl: Konsultation um Mitternacht
 
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