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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 35.1930, (Nr. 1-52)

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J u

3 5. JAHRGANG

G E N D

1930 / NR. 6

DER BOCK AUF DEM 13 A L L

i>üu ihren Spiegeln, in verschiedenen Ge-
genden der Stadt, stehen Personen, die den
heutigen Maskenball besuchen werden.

„Zugegeben", sprach Dr. Dexter, ein
Advokat, zu seinkm Spiegelbild, „daß -ich
nicht apollinisch aussehe, jo folgt daraus
noch nicht, daß ich ausgeschlossen bin vom
Ballglück. Schließlich bin ich nicht bucklig.
Es ist übrigens Zeit, daß wir, weniger schöne
als schöngeistige, wir, weniger reiche als wort-
reiche Männer, einen bl in stürz der Werte
herbeisühren, selbst im Ballsaal, und an die
Stelle des Bizeps und Trizeps den ... WitzepS
setzen. Hat nicht unlängst Elg mit einem
Witz eine Frau erobert? Wird gemacht!"
Er streichelte seinen Knebelbart.

Zur selben Zeit sagte sich der junge Sport-
mann Kernbach, der nackt vor seinem großen
Spiegel stand: „Ihr mit eurem Geist! Dreck!!
Das beste Ballgespräch ist: eine Frau beim
Tanz so anfassen, daß sie fühlt, man ist
Mann. Gott sei Dank, im Ballsaal gilt nur
Kraft und Schönheit. Kraft" — er beugte
die schwellenden Arme — „und Schönheit"

— er streckte sie gegen den Spiegel und warf
den Kopf zurück; und so, nach dem Takte
dieser zwei Worte, sie deklamierend, vollführte
er feine rhythmischen Übungen.

„Wrebtzky", sprach der Maler, der so hieß,
in das Bruchstück seines Spiegels. Er schwieg
und glotzte.

Elg stand lange vor dem Spiegel, in dein
sein ganzes Zuhause Platz fand, ein enges
Zimmer. Er schaute seine Augen an. Er
bohrte seinen Blick in ihren. „Was seid ihr
für Wesen, ihr beide, ihr stillen Herrscher;
ihr kleinen Kobolde, ihr braven Schwimm-
tiere, die ich Schlinge nennen will. Ach, ich
möchte euch aus euren Schlupfwinkeln ziehen
und euch auf die Straße werfen! Ihr Hamster
alles Schönen, das ihr aufbewahrt, das ihr
aber nicht essen könnt! Nicht essen, um
schöner zu werden durch das Schöne! bim
Schönheit zuzuführen diesem Kopf, der euch
hält, diesem Gesicht, das sich nach euch so
nennt. Glaubt ihr: weil ihr Schönheit schaut,
seid auch ihr schön? Blickt euch doch an!
Drückt an den Blick, noch stärker, noch tiefer

— ihr könnt das Herz nicht ausdrücken, das
schön ist trotzdem, schöner als ihr, schöner als
ich, am schönsten schön!" Elg fiel in den
Stuhl, von einem Strom der Zärtlichkeit
erfaßt. „Mit euch soll ich in den Ballglanz
gleiten, mit euch, die ihr ihn schlucken, doch
nicht strahlen könnt, mit euch, die ihr mein

VON VICTOR WITTNER

Feuer nicht brennen könnt, daß es andere
anzünde, Frauen und Frauen!" —

Aber als er später den Saal erreichte und
die glänzende Welt seine Augen betrat, freute
er sich wieder der Überraschung, die sie ihm
mitteilten. blnd wieder glaubte er sich mit
gutem Recht und Anspruch in diese Welt
gestellt, ihr gewachsen, dem Lichte zugehörig,
nicht dem Dunkel, der Gesellschaft bestimmt,
nicht der Einsamkeit. Und er glaubte, da er
alles sah und sog, man könnte auch ihn nicht
übersehen.

Man sah ihn. Maskierte Frauen nickten
ihm zu. Doch die ihm gefällig sein wollten,
gefielen chm nicht. Eine sprach ihn an, er
tanzte mit ihr, sie war schwer zu führen,
sie wog. Eine andere kam, gut, ihre Augen
glänzten schwarz, er nahm sie um die Hüfte,
schön; ach, warum öffnete sie den Mund, der
doch gut war, und bildete Worte und Sätze,
greuliche?

Nein, er wollte die andern, die durchaus
Schönen, die Vollendeten! Aber diese wiederum
wollten nicht ihn, sondern andere, sie wollten
die durchaus Schönen, die Vollendeten! Elg
sah die allgemeine Jagd.nach dem Schöneren,
die hier sich zwanglos entfalten konnte, wo
das Geld anonym blieb und das Wort nicht
Raum noch Zeit fand, sich festzusetzen, aus-
zubreiten.

Die Freunde kamen. Kernbach tauchte auf,
an jedem Arin eine Schöne, grüßte strahlend,
schritt fröhlich weiter. Der Maler Wrebtzky
erschien im Saal, begrüßte Elg.

Dr. Dexter ruderte heran: „Meine Herren,
stürzen wir die Gesellschaftsordnung um! Was
sagen Sie zu diesem herrlichen Fest? Es muß
uns dreien gelingen, alles, was hier gut und
teuer ist, an uns zu reißen."

„Wieso?" fragte Wrebtzky.

„Was machen denn die Männer", frage
ich, „die keinen richtigen Anschluß finden?"

„Sie nehmen den unrichtigen."

„Falsch. Denn jeder, der sich in einen Frack
wirft, stürzt sich in die größten Hoffnungen
und kommt mit den höchsten Ansprüchen hier-
her. Jetzt passen Sie auf: es gilt, diese Kräfte
zu sammeln, die sich sonst zersplittern, und
sie zu einein geschlossenen Sturmangriff zu
führen."

„Auf die Festungen, die ohnehin fallen?",
fragte Elg.

„Im Gegenteil, auf die andern —"

„— die schon besetzt sind?"

„— die wir entsetzen werden!"

„Entsetzen — richtiges Wort", sagte
Wrebtzky. „Wer Sie anschaut, ist schon
entsetzt."

„Lieber Wrebtzky, Sie find auch kein Beau."

„In Ihrer Gesellschaft schon."

„Mit Relativitätstheorien werden Sie hier
nicht weiterkommen. Schließen Sie sich lieber
unserem Kollektivschritt an."

„Absolut genommen, sehen Eie ähnlich
einem Ziegenbock, lvas bei uns zu Hause —"

„So, ich wußte nicht, daß es jüdische Tiere

gibt."

„Ich werde Ihnen zunächst mal beweisen...

„Aber zugegeben, daß ich häßlich bin, meine
Herren, wir wollen ja nicht durch Schönheit
erobern, keine Spur, sondern durch die Häß-
lichkeit, die wir zu einem Wertprinzip er-
heben."

„Wieso?"

„Ja, meine Herren, merken Sie denn nicht,
daß wir hier in der Minderheit find? Wohin
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Steffi Kohl: Faschingsglück
 
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