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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 35.1930, (Nr. 1-52)

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Nr. 6
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https://doi.org/10.11588/diglit.6762#0086
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noch tanzten die Paare: es war wie die letzte
Bewegung eines in Schwung gebrachten Kör-
pers, dem die todbringende Kugel schon im
Herzen sitzt. In der nächsten Minute mischten
sich wilde Schreie Ln die Musik, hysterische
Frauen wälzten sich in ihren kostbaren Klei-
dern aus dem Boden, der Unbekannte ließ die
Leine loS, und der Bock, vom vielen Licht und
Geruch verwirrt, tanzte wild durch den Saal,
die schönsten Frauen suchten Schutz bei den
häßlichsten Männern, die häßlichen Frauen
erschauerten süß in falschen Ohnmächten, die
mutigsten bekamen rote Sensationsstecke auf
den Pudergesichtern, an den Türen stauten
sich die Flüchtenden, indes die Kellner um die
unbezahlten Rechnungen zitterten, ein Musiker
blies wie irr in die Posaune, und die gesicher-
ten Galerien bogen sich vor Gelächter. Nur
Dr. Dexter blieb kühl, betrachtete sich und das
Tier in einem Wandspiegel, die Ähnlichkeit
feftzustellen .. .

Jetzt stürzte sich der Ziegenbock mit wahn-
sinnigem Aug und schiefem Kops, sein hol-
ländisches Bärtchen wehte, auf eine Dame,
es war die Tizianblonde, ihre kleinen Brüste
erschraken und stellten sich spitz — eine un-
heimliche Stille gähnte-schon stand Elg

da, streckte die Rechte, schoß, schoß, schoß —
der Bock lag, ein Opfertier, auf dem Parkett,
das Blut spritzte aufs Silberkleid der Tizian-

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blonden, sie sank dem Retter in den linken
Äem, und angesichts des ganzen Saales, der
aufge^chrien hatte und noch immer nicht
atmete, küßte Elg sie auf ihre kühlen, fernen
Lippen, die leise erwiderten und um seinen
mutigen Mund sich schlossen, indes das Par-
kett, die Logen, die Ränge in erlöster Be-
geisterung stürmisch applaudierten.

as(cieri

VON FRANZ CARL ENDRES

Rcaökiert and frei! Deshalb frei, weil
man maskiert ist. Die Maskenfreiheit ist
der komische Beweis unserer schweren Ge-
bundenheiten.

Wir maskieren uns, um endlich einmal
unmaskiert uns benehmen zu können. Wir
bedecken uuser Gesicht, um endlich einmal
unser Gesicht zeigen zu können. Wir dürfen
nur die Wahrheit reden, wenn wir nicht mehr
wir selbst sind, sondern ein anderer, eine
Maske, eine verkörperte Idee eines freien
Menschen, der beschworene Geist eines irgend-
wann einmal gelebt Habenden.

Masken haben stets ganz leise etwas
Trauriges an sich. Und je mehr sie tollen,
desto mehr. Sie sind hüpfende Sehnsüchte,
lachende Unmöglichkeiten, kolorierte Täuschun-
gen über die Düsternis der Wirklichkeit. Es
sind geisterhaft lebendig gewordene Wünsche,
die sonst im Grabe einer erzwungenen Unfrei-
heit ruhen.

Es sind Träume. Wir sind ja auch im
Traum maskiert. Unsere Feigheit wird Kühn-
heit, unsere Schwäche Stärke, unser Spazier-
stock ein Schwert. Unsere Nachtanzüge wer-
den Flügel, und unsere heißesten und deshalb
stillsten Wünsche werden Erfüllung. Ein
Maskenball — ein Saal von Träumen.

Daß die, die da maskiert einherlaufen,
daran nicht denken, ist klar. Wer denkt an
die tiefsten Gründe seines Tuns? Aber eS
ist doch so. Die Maöke ist ein Ventil für-
überspannte Gebundenheit, eine Dachluke in
den blauen Himmel der Persönlichkeit, ein
Türchen auS dem spießigen Küchenkräuter-
garten hinaus in den verbotenen Park, wo
alte Götterbilder in Efeulauben stehen und
über die Küchenkräuter lächeln würden,
wenn . . . Aber das ist eS ja eben. Götter
sehen keine Küchenkräuter, weil im Küchen-
garten keine Götter wohnen wollen. Darum
ist die kleine Türe nötig, sonst halten wir
Menschen die Petersilie für eine Rose und
den Duft der Zwiebel für daS Parfüm der
Aphrodite. Darum ist die kleine Türe nötig,
damit ein kühn maskiertes Menschenherz in
den großen heiligen Park der Götter hinauS-
hüpfen kann.

Und dann? Wenn die Maskenzeit vorbei
ist? Dann ziehen wir leider die Kleider unserer
soliden Schneider an. Dann sind wir wieder,
was wir als Masken nicht waren: brave,
gestaltlose Produkte unserer Umgebung.
Sklaven eines regierenden Alltags. Menschen,
die beileibe nicht das sagen, was sie denken.
Ach nein, die sogar meist nicht den Mut
haben, das zu denken, was sie denken. Die
Türe in den Park der Götter ist verschlossen.
Es lebe der Küchenkräutergarten! Der Traum

ist zu Ende. Die Freiheit hat gute Nacht
gesagt. Die lustige Ehrlichkeit ist einer höchst
soliden Heuchelei gewichen. Wir sind im
Alltagskleide unserer Schneider maskiert bis
in das tiefste Herz.

Denn der Traum ist Wahrheit! Die Maske
war unser wirkliches Gesicht. Das Tollen,
Jauchzen und Springen waren Bewegungen
unsere Wünsche, und die Küsse, die vielen,
vielen, die wir gaben und bekamen, und die
Zärtlichkeiten, waren unsere wirklichen Ge-
danken.

Maskiert sind wir erst wieder, wenn wir
nicht mehr maskiert sind. — Nur wüste
Nationalisten haben die Demaskierung um
12 Uhr nachts beschlossen. Warum den
Traum nicht ewig träumen? Warum mit
aller Macht aus dem Park der Götter in
den Küchenkräutergarten zurückdrängen? Sinn-
lose Wiederherstellung der Alltagslüge. Echter
Rationalismus: um die große Lüge der soge-
nannten Realität zu erreichen, die süße Wahr-
heit des Traumes opfern.

CMsleimglcetteri

VON MARCEL ARNAC

Die Ehe ist Rindfleisch; aber es gibt hun-
dert Arten, es zuzubereiten.

*

Der Herr, der seiner Dame schwört, daß er
ihr bis ans Ende der Welt folgen würde, weiß

sehr gut, daß sie nicht daran denkt, hinzugohen.

*

Man hat die Liebe getötet. Gewiß aus
Vorsicht: um nicht länger an ihr zu sterben.

(Übertragen von Rose Richter)

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Register
Gino v. Finetti: Zeichnung ohne Titel
Hilla Oßwald: Evaskostum
Franz Carl Endres: Maskiert
Marcel Arnac: Kleinigkeiten
 
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