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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 35.1930, (Nr. 1-52)

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https://doi.org/10.11588/diglit.6762#0355
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J U G

35 JAHRGANG

END

1930 / N R, 25

G. v. F i n e t t i

CErlebnis eines cJPanjßreißi

VON H. OSCHA

Damals tvav ich noch jung. Achtzehn
Jahre alt.

Zerlumpt, mit kaputten Stieseln, durch-
geweicht und mit nassen Füßen kam ich spät
abends in einer kleinen Stadt an. Ich glaube,
es war in Mecklenburg. Ich war hungrig
und müde. Kein Grund zum Wundern, denn
ich hatte über zwanzig Kilometer hinter mir.
Bei dem strömenden Regen eine Leistung.

blnter einer gelb scheinenden Laterne stand
ein Gendarm. Er war in eine dicke, schwarze
Lederpelerine eingewickelt. Ein bißchen scheu
ging ich an ihn heran und fragte nach einer
billigen Unterkunft. Er war ein großer Kerl,
an dem ich hochsehen mußte. In dem Hellen
Lichtschein erkannte ich erst, wie schlimm eS
regnete. Die Tropfen sielen so dicht, daß man
meinen mußte, eS kämen lange nasse Fäden
vom Himmel herunter.

Der Polizist sah mich ein Weilchen
schweigend an. Ich tat ihm leid. Er hätte
mir gern geholfen. DaS merkte ich. Aber da
war noch etwas anderes in ihm. Er mußte
mich doch auSfragen und mich mit auf die
Wache nehmen. Es ging hin und her in ihm.
Er suchte nach einem Ausweg und fand ihn
schließlich, indem er mir mit ein paar knappen
Worten Bescheid gab. Ich sah an seinem

Gesicht, daS er nicht ganz mit sich zufrieden
war. Mir war eS aber lieb so.

Nachdem ich einige Schritte gegangen war,
ries er mich noch einmal an. Ich drehte mich
um und war aus dem Sprung, auSzurücken.
Er kam aber nicht näher, sondern formte
seine Hände wie einen Trichter, hielt sie vor
den Mund und ries mir halblaut, aber deut-
lich zu: „Übernachten kostet dort zwanzig
Pfennige." Dann sah er sich verlegen nach
allen Seiten um, ob ihn auch niemand gehört
hatte. Wahrscheinlich schämte er sich jetzt,
einem Landstreicher ungefragt etwas Gutes
getan zu haben. Seine Angst war aber
unbegründet, bei dem Sauwetter war niemand
draußen.

Ich nickte und ging schräg über die Straße,
in der Richtung, die er mir vorher angegeben
hatte.

Zwölf Pfennige besaß ich noch. Nun mußte
ich mir noch acht Pfennige dazu besorgen und
auch etwas zum Essen erfechten, denn mein
Magen knurrte verdammt.

Ich hatte Glück. Kaum war ich um die
Ecke, als ich an einen Laden kam, der trotz
der späten Zeit noch nicht geschlossen war.
„Kolonialwaren" stand an der Tür. Ich trat
ein. Der Besitzer war ein kleiner, dicker

ers

Mann mit einem Spitzbart. Er saß auf
einem Rohrstuhl und las Zeitung.

Ich machte einen tiefen Bückling und sagte
mein Sprüchlein. Dabei versuchte ich, mir die
Situation schnell klarzumachen. Sehr oft
muß man sich schnell umstellen können. Der
Mann hatte heute durch den Regen bestimmt
schlechte Einnahmen gehabt. Ich sah aber so
erbärmlich aus, daß mein Elend auch den
härtesten Geizhals hätte erweichen müssen.
DaS glich sich also auS.

Der Mann sah aus. Er zögerte. Dann
reichte er mir auS einem Sack eine Menge
harten Gebäcks hin. Ich glaube, es war
Hundekuchen. Er gab wohl hauptsächlich
— wie die meisten Menschen —, um mich
loszuwerden. Ich bat ihn um Nachtquartier,
wußte aber natürlich vorher, daß er ablehnen
würde. Ich wollte ja nur einen Grund haben,
um nach acht Pfennigen fragen zu können.
Don Leuten, die ein Geschäft haben, bekommt
man fast nie bareS Geld. Auch dieser Mann
schien wegen meiner Forderung ärgerlich zu
werden. Er stand von seinem Stuhl aus und
kam aus mich zu. Ich dachte schon, daß ich
flitzen müßte. Aber plötzlich legte er ein Zehn-
psennigstück, das er gerade in der Hand hielt,
auf die Kante des Ladentisches.
Register
H. Oscha: Erlebnis eines Landstreichers
Gino v. Finetti: Zeichnung ohne Titel
 
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