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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 35.1930, (Nr. 1-52)

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https://doi.org/10.11588/diglit.6762#0356
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Er wollte eS mir wohl nicht in die Hand
geben. Ich habe schon oft bemerkt, daß sich
die Leute davor scheuen. Schnell griff ich zu,
sagte: „Danke schön!" und ging hinaus. Jetzt
hatte ich zweiundzwanzig Pfennige und Essen.
Hinter mir ließ der kleine Mann die Roll-
läden vor seinem Schaufenster herunterrasseln.

Die Herberge gehörte zu einer Kneipe. Ich
blieb noch ein Weilchen draußen und verdrückte
mich vor dem Regen in einen HauSeingang.
Dort aß ich meinen Kuchen. Er schmeckte nicht
schlecht. In die Penne wollte ich mein Essen
nicht mitnehmen, denn da war vielleicht
irgendein Tippelbruder, der gar nichts hatte,
und dann konnte man doch nicht so sein.

Als ich in das Lokal eintrat, wurden die
Leute alle still. Sie staunten mich an. Komisch,
dabei sehen die Menschen in den kleinen
Städten doch jeden Tag so viele Landstreicher.
Die dicke Wirtin hinter dem Büffet wußte
sofort, was ich wollte. Sie drehte sich um
und rief: „Friedrich!"

Friedrich war der Hausdiener. Er stand
auf einmal in dem Türrahmen zwischen
Korridor und Gaststube und winkte mir. Er
war ungefähr so alt wie ich, hatte keine
Jacke an und trug die Hemdärmel auf-
gekrempelt. Als wir den Korridor entlang-
gingen und dann eine Leiter hochkletterten,
wollte er mich aushorchen. Ich hatte aber
keine Lust, viel zu sprechen, und sagte immer
nur: „Ja" und „Rein". Was er eigentlich
wollte, war mir schnell klar. Mir ist es ja
ebenso gegangen. Friedrich gehörte im nächsten
Jahr bestimmt zur Zunft.

Oben nahm er mir die zwanzig Pfennige
ab. Dann deutete er auf eine Tür und
kletterte wieder hinunter. Den Lärm aus der
Gaststube, der gleich wieder begonnen hatte,
als ich verschwunden war, hörte man bis
hierher.

Hinter der angelehnten Tür, die Friedrich
mir bezeichnet hatte, war auch Krach. Ich
stieß sie auf. In dem großen, langgestreckten
Raum war rechts und links Stroh auf-
geschüttet. Gerade so breit, daß ein Mann
dort liegen konnte. In der Mitte war ein
schmaler Gang freigelassen. Am Ende be-
fanden sich zwei kleine Fenster, matt vor
Staub und Spinnweben. Davor stand ein
alter eiserner Gartenstuhl, auf dem ein Pack
wollener, zusammengelegter Decken auf-
geschichtet war. Rechts an der Wand saßen
vier Tippelbrüder und spielten Karten.

Sie hatten eine Kerze angesteckt, das ein-
zige Licht in dem großen Raum. Die vier
kümmerten sich gar nicht um mich, sahen
kaum auf, als ich eintrat. Links vorn, fast
unter dem einen Fenster, lag ein alter Walz-
bruder. Ein Graubart, sicher schon über
sechzig. Ein Paar schöne Schaftstiefel sahen
unter den beiden Decken vor, in die er sich
eingewickelt hatte. Er lag auf dem Rücken,
ganz ruhig, schlief aber nicht. Seine Augen
waren offen und starrten nach dem ver-
kommenen Gebälk unter dem Dach. Bei jedem
Atemzug, den er machte, zitterte sein strup-
piger Vollbart ein bißchen. Die faltigen
Linien auf seinem Gesicht sahen aus wie
sonderbare Figuren. Hier m der Ecke konnte

man solche Sachen schon denken, denn eS war
fast dunkel.

Nachdem ich mich auSgezogen hatte, wickelte
ich mich gleich in vier Decken ein und legte
mich dicht neben den Alten. Der rührte sich
nicht. Jetzt fühlte ich mich wohl. Satt —
und langsam wurde ich auch warm.

Die drüben an der Wand machten mäch-
tigen Lärm. JedeSmal, wenn mir die Augen
zufielen, riß mich Gelächter oder Schreien
hoch. Sagen konnte ich nichts, denn es waren
vier und sie sahen nicht so aus, als würden
sie sich auf eine lange Unterhaltung einlassen.
Ich mußte hoffen, daß sie bald müde wurden.

Mit der Zeit wurde ich unruhig und begann
über allerlei nachzudenken. Ich achtete auf
alles und hörte das Krabbeln und Rascheln
von den Tausenden kleiner Kellerasseln.

Draußen erschallten Schritte und des Haus-
dieners Stimme. Gleich darnach wurde die
Tür geöffnet. Ein neuer Schlafgast war da.

Ich drehte mich so herum, daß ich ihn be-
obachten konnte, soweit das bei dem trüben
Licht möglich war. Es war ein kleiner,
schmaler Landstraßenfloh, sicher noch zwei
Jahre jünger als ich. Auch er war maßlos
verregnet, trug aber einen Mantel. Die
Mütze hatte er tief mS Gesicht gezogen, daß
man nicht viel davon sehen konnte. Er blieb
einen Moment stehen, blickte sich um und
holte sich dann ein paar Decken. Er machte
eS genau so wie ich. Unsere Seite schien ihm
vertrauenerweckender zu sein, denn er legte
sich neben den Alten auf die andere Seite.

Die vier drüben hatten anscheinend ebenso-
wenig Notiz von dem Jungen genommen wie
von mir vorhin. Aber als er lag, begannen
sie plötzlich leise zu reden. Sie tuschelten,
lachten unterdrückt und ich hatte den Eindruck,
daß sich alles auf den Kleinen bezog. Der
hatte sich zur Wand umgedreht und kümmerte
sich um nichts.
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Max Beckmann: Frauenkopf
 
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