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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 35.1930, (Nr. 1-52)

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https://doi.org/10.11588/diglit.6762#0357
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Die vier unterbrachen ihr Kartenspiel. Sie
standen auf, gähnten, reckten sich und halten
die übriggebliebenen Decken. Dann zagen sie
sich still aus, packten sich in eine Ecke und
löschten das Licht. Ich war froh. Sogar der
Alte neben mir, der bis dahin wie ein Tater
gelegen hatte, sagte halblaut irgend etwas.
Dann schlief ich gleich ein.

Plötzlich hörte ich einen lauten Schrei und
war sofort munter. Wie lange ich geschlafen
hatte, wußte ich nicht. Mein Herz klopfte
sehr, so unheimlich fand ich es. Aber eS war
gar nichts. Wahrscheinlich nur ein Traum.
Ich versuchte, mich zu beruhigen, schloß die
Augen wieder und atmete tief. Da raschelte
eS im Stroh und ein leises Stöhnen war zu
hören.

Ganz vorsichtig, ohne Geräusch zu machen,
richtete ich mich auf. Wieder schrie eS kurz,
dann röchelte ein Mensch. Jemand hatte
den Schreienden an der Kehle gepackt. Ich
wußte plötzlich genau, daß eS der kleine Land-
straßenfloh war, den sich die vier rüber-
gezogen hatten.

Jetzt redete er: „Laßt mich, ich bin be-
stimmt kein Mädel, bestimmt nicht!" Dabei
weinte die Kleine so jämmerlich, daß eS jeder,

aber auch jeder gemerkt hätte. Die Vier
lachten bloß und einer sagte: „JungenS, zieht
ihr mal die Hose aus!"

Das Weib wehrte sich. Ich konnte nichts
sehen, aber ich wußte genau, waS sich drüben
abspielte. Sie konnte natürlich nichts machen,
man erstickte sie einfach im Stroh.

Ich zitterte, wahrscheinlich vor Angst, und
beugte mich weit vor. Da faßte mich jemand
beini Arm. Ich erschrak. Es war aber der
Alte, der neben mir lag. Er versuchte, mich
zurückzuziehen. Ich gab nach und legte mich
leise wieder hin. Sein Kops war dicht neben
meinem, als er mir zittrig zuflüsterte: „Junge,
ich bin schon vierzig Jahre unterwegs, und
wenn vier Tippelbrüder ein Weib greisen,
dann kann man nichts machen. Gar nichts."
Dann lag er wieder lautlos.

Drüben ging der halbunterdrückte Kampf
weiter.

Ich lag wie gefesselt. Warum half ich
denn nicht? bind was sagte denn der Alte
überhaupt? Ich wollte doch dem Mädel gar
nicht beistehen. Ich wollte doch nur hören.
Meine Gedanken gingen ganz wirr. Wenn
ich nun rief? Einfach ein Fenster aufmachte
und auf die Straße brüllte! Aber was hatte

ich dann? Dann kam die Polizei und ich
wurde auch mitgenommen. Db ich nicht doch
dazwischenging? Hast ja Fischblut! warf ich
mir vor.

Ganz steif und starr blieb ich liegen,
während ich meine unentschlossenen Pläne
wälzte. Drüben war eS auf einmal still.
Ganz still. Ich war dadurch nicht beruhigter
und lauschte angestrengt. Mal ein Rascheln,
ein Räuspern, weiter nichts. Wenn >ie das
Mädel nun erstickt haben, dachte ich. Was
soll dann nur morgen mit mir werden? Nein,
diese Feigheit von mir! —

Wie lange ich so gelegen habe, weiß ich
nicht. Ich fuhr aus einmal in die Höhe, als
eS schon hell war. Ganz kaputt und zer-
schlagen fühlte ich mich. Ich sah mich um.
Es war niemand mehr da. Der Alte, das
Mädel und die vier Landstreicher, alle fort.
Es war sicher schon spät. Ich war ganz
verdöst und versuchte, mich der Reihe nach
zu erinnern. Mir siel auch alles wieder ein
und ich war froh, daß ich allein war.

Ich beeilte mich mit dem Anziehen, um
schnell sortzukommen. Gerade als ich aus
der HauStüre trat, begann eS wieder ein
bißchen zu regnen.
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Julius Heß: Blühende Bäume
 
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