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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 35.1930, (Nr. 1-52)

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https://doi.org/10.11588/diglit.6762#0452
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T* c r Betrunken e

Alfred K u b i n

„Was hast du gesagt?"

„Ich? Nichts. Du siehst dach."

„Aber du hast dach etwas gesagt. Figurenopfer, nicht?"

„Siehst du denn nicht?"

Ich war auf das, was nun geschah, nicht varbereitet gewesen. Mein
Freund fegte ahne ein Wort sämtliche Figuren vom Schachbrett.

Er sagte: „Nein, dieses Wart ertrage ich heute nicht" — er atmete
tief und lehnte sich zurück. Er rauchte nervös seine Zigarre, zog tief
den Rauch ein. Sein vibrierendes, braunes, nervöses Gesicht hüllte sich
in Rauch.

„Was ist mit dir loS?"

Er schwieg einige Augenblicke, dann begann er zu sprechen:

„Nun, ich bin nicht vollständig wahnsinnig, und daS Ganze ist längst
vorbei." — Er lächelte. — „Es ist heute meine geringste Sorge. Aber
trotzdem .. . weißt du, es gibt Worte, die einen bis ans Grab begleiten.
Dumme, kleine Worte, die den andern nichts bedeuten, und derjenige,
den sie schmerzen, erinnert sich vielleicht ebenfalls nicht mehr genau an
die Ereignisse, die mit ihnen Zusammenhängen. Nur das Wort lebt,

gespensterhast, im Schein des Scheiterhaufens und wenn es irgendwo
aufslattert, steckt eS unser Herz in Brand. Ich habe von einem Wahn-
sinnigen gehört, der immer wieder sagte: Gott mit Ihnen. Vielleicht
hatte er dies einmal zu einer Frau gesagt, als ihm die Frau noch
wichtiger war als sein Leben. Ich rede von Stefrsik, dem Ingenieur.
Hast dti ihn nicht auch gekannt?"

Er lachte. — „Mein Figurenopfer ist eine amüsante Geschichte. Einst
war sie tragisch gewesen ... einst... als ich siebzehn war. Ich war
noch nie so verliebt gewesen und heute könnte ich es gar nicht mehr sein.
Lach mich nicht aus, eS war eine Verwandte, die Dochter des Bruders
meiner Nlutter .. . Wie heißt dieser Grad der Verwandtschaft doch? ...
Ach ja, Cousine. . . Also, ich war in meine Cousine verliebt. Sie liebte
mich ebenfalls, mütterlich, kameradschaftlich. Ich war ein guter, kleiner
Kamerad, den sie aus überlegene Art in ihre Geheimnisse einweihte, für
kleine geheime Botengänge verwandte... Sie wohnte bei uns, denn sie
war eine Waise. Sie war schön. Blond, mit langem Haar, warmen
braunen Augen, groß, schlank, verträumt...

Daß ich sie liebte, erfuhr ich, als ich mich von ihr trennen mußte.

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Alfred Kubin: Der Betrunkene
 
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