Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 35.1930, (Nr. 1-52)

DOI Heft:
Nr. 31 (Sondernummer-Muenchen)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6762#0483
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Ich bin Büroarbeiter. Daß München eine Fremdenstadt ist, merke ich
höchstens an den Inseraten der Neuesten Nachrichten oder an den lockend
zum Besuch der Festspiele einladenden Plakaten der Litfaßsäulen. Warum?
Weil ich meinen Tag freudlos auf einem Büroschemel abzusitzen habe,
über Geschäftsbücher gebeugt und der Mittagspause entgegenharrend.
Immer hoffe ich, daß auch ich einmal im schicken Reiseanzug durch daS
Land fahren darf, von Eindruck zu Eindruck gejagt, den Zeigefinger im
Baedeker und die Leika knipsbereit in der Seitentasche. Aber Jahr für
Jahr vergeht, ohne daß diese Illusion Wirklichkeit werden will.

Neulich wurde mir aufgetragen, einen Gang in die Stadt zu machen.
Der Chef, der mich sonst mit Hartnäckigkeit übersieht, gab mir ein kleines,
versiegeltes Paket. Ich sollte cs in einem Bankhaus am Odeonsplatz
gegen Ouittung abgeben.

Derartiges bedeutet Sensation für mich. Man bedenke: statt im

Büro zu sitzen — es liegt im Erdgeschoß, an der Nordseite und wird
von Sonne nicht verwöhnt — darf id) nun ein bißchen durch die
Straßen bummeln. Ich nehme hastig meinen Hut und mache mich auf
den Weg.

Zweierlei ging mir durch den Sinn. Das erste: Dir ist zumute wie
einein Kinde, das einen schulfreien Tag hat. (Dabei ist dir höchstens
eine freie Stunde gegönnt!) Aber in der Vorstellung ist diese Freizeit
endlos, und dein Herz macht aus Freude darüber kleine Luftsprünge.
— blnd das zweite: Du weißt gar nicht, wie schön diese Stadt ist, denn
du hast keine Zeit für sie. Um sie zu erfassen, müßte man Müßiggänger
sein, laden doch diese Straßen zum geruhsamen Lustwandeln, in den
Gärten sollte man nacheinander auf jeder Bank Platz nehmen, um ein
wenig über sich und die Welt nachzudenken. Dem ist aber nicht so —
dein Büroschemel wartet auf dich. Also vorwärts!

le des

iaö

apno
Register
Raimund Geiger: Deutsches Museum
Manfred Sturmann: Kapriole des Alltags
 
Annotationen