Wiedersehen
H. G e i s e I e r
Stunde später den Wüstling Cham und brachte ihn auf das Polizei-
kommistariat, von wo er nach dem Verhör wegen Vergehens gegen die
öffentliche Sittlichkeit ln die ordentliche Untersuchungshaft eingeliefert
wurde. Gestern, am siebten Januar, verantwortete er sich vor dem
Strafsenat unter dem Vorsitz des GerichtSrateS Melechenech.
^ rhandlung mußte im Schwurgerichtssaal abgehalten werden,
müichkeiten des Senates keineswegs ausreichten, alle Zuhörer
'n, unter denen sich auch zahlreiche Damen befanden,
kklagte Cham wurde von zwei Aufsehern in den Saal geführt,
tchungöhaft hatte keine Spur an ihm zurückgelassen und wie
Herr Noah unserem Gerichtssaalberichterstatter im Journalistenzimmer
erklärte, war sein mißratener Sohn eher dicker als magerer geworden.
Die Verhandlung wurde vom Senatspräsidenten mit dem Verhör des
Angeklagten eröffnet, der auf die gestellten Fragen mit lauter Stimme
antwortete.
Der Gerichtspräsident stellte fest, daß der Angeklagte bereits vor-
bestraft fei. Cham hatte einen Sündenbock gestohlen und mit einigen
Freunden verspeist. Eine zweite Strafe hatte er vor Jahren wegen
Ehrenbeleidigung erhalten. Sein Verteidiger stellt hierauf den Antrag,
festzustellen, daß Cham in seiner Jugend vernachlässigt und schlecht
erzogen wurde.
Herr Noah widerspricht dem aufs entschiedenste. Es sei zwar wahr,
daß er bei der Sintflut, als die Teiche aus den Ufern traten, keine Zeit
gehabt habe, den Jungen so zu erziehen, wie er es eigentlich gewünscht
hätte. Nichtsdestoweniger habe er sich gegebenenfalls sogar durch Prügel
bemüht, ihm die Grundsätze der Sittlichkeit einzuimpfen. Leider sei Cham
nach der Sintflut in schlechte Gesellschaft geraten. Er habe sich mit
Gassenjungen angefreundet, die am Leben geblieben seien, und bereits als
vierzehnjähriger Bub habe er unflätige Dinge gesprochen und geschimpft.
Auf die Frage, worin dieses Schimpfen bestanden habe, erklärte Herr
Noah, in der Regel habe er Sau, Zuhälter und ähnliches geäußert.
Dafür feien jedoch Sem und Japhet brave Kinder.
Der Verteidiger stellt hierauf an Herrn Noah die Frage, ob Cham in
die Schule gesandt worden sei.
Herr Noah entschuldigt sich, das sei wegen der Sintflut nicht möglich
gewesen, die Wege seien noch nicht auSgetrocknet gewesen und überdies
seien damals alle Volksschullehrer ertrunken. Nur ein einziger Bürger-
schullehrer habe sich gerettet und der sei vor Entsetzen irrsinnig geworden.
Verteidiger: „Herr Zeuge, warum haben Sie also dem Angeklagten
Cham keinen Hauslehrer genommen?"
„Die Hauslehrer sind ebenfalls alle ertrunken." (Allgemeine Be-
wegung.)
Verteidiger: „Als intelligenter Mensch hätten Sie ihm selbst die Grund-
lagen der Sittlichkeit einimpfen sollen."
Zeuge (mit erhobener Stimme): „Bitte sehr, hoher Gerichtshof!
Jedem ist gewiß bekannt, wieviel Mühe es mich kostete, die Menschheit
vor dem Aussterben zu retten, wieviel Nächte ich im Gebet verbrachte
und wie viele Tage ich brauchte, um die Tiere für mein Schiff auf-
zutreiben." (Zum Verteidiger gewandt:) „Glauben Sie, Herr Doktor,
es ist so leicht, Tiger auf ein Schiff zu tragen? Und dann soll man
sich noch um die Erziehung dieses Lausbuben kümmern?"
Cham ruft seinem Vater zu: „Alter Säufer!" Er wird vom Vor-
H. G e i s e I e r
Stunde später den Wüstling Cham und brachte ihn auf das Polizei-
kommistariat, von wo er nach dem Verhör wegen Vergehens gegen die
öffentliche Sittlichkeit ln die ordentliche Untersuchungshaft eingeliefert
wurde. Gestern, am siebten Januar, verantwortete er sich vor dem
Strafsenat unter dem Vorsitz des GerichtSrateS Melechenech.
^ rhandlung mußte im Schwurgerichtssaal abgehalten werden,
müichkeiten des Senates keineswegs ausreichten, alle Zuhörer
'n, unter denen sich auch zahlreiche Damen befanden,
kklagte Cham wurde von zwei Aufsehern in den Saal geführt,
tchungöhaft hatte keine Spur an ihm zurückgelassen und wie
Herr Noah unserem Gerichtssaalberichterstatter im Journalistenzimmer
erklärte, war sein mißratener Sohn eher dicker als magerer geworden.
Die Verhandlung wurde vom Senatspräsidenten mit dem Verhör des
Angeklagten eröffnet, der auf die gestellten Fragen mit lauter Stimme
antwortete.
Der Gerichtspräsident stellte fest, daß der Angeklagte bereits vor-
bestraft fei. Cham hatte einen Sündenbock gestohlen und mit einigen
Freunden verspeist. Eine zweite Strafe hatte er vor Jahren wegen
Ehrenbeleidigung erhalten. Sein Verteidiger stellt hierauf den Antrag,
festzustellen, daß Cham in seiner Jugend vernachlässigt und schlecht
erzogen wurde.
Herr Noah widerspricht dem aufs entschiedenste. Es sei zwar wahr,
daß er bei der Sintflut, als die Teiche aus den Ufern traten, keine Zeit
gehabt habe, den Jungen so zu erziehen, wie er es eigentlich gewünscht
hätte. Nichtsdestoweniger habe er sich gegebenenfalls sogar durch Prügel
bemüht, ihm die Grundsätze der Sittlichkeit einzuimpfen. Leider sei Cham
nach der Sintflut in schlechte Gesellschaft geraten. Er habe sich mit
Gassenjungen angefreundet, die am Leben geblieben seien, und bereits als
vierzehnjähriger Bub habe er unflätige Dinge gesprochen und geschimpft.
Auf die Frage, worin dieses Schimpfen bestanden habe, erklärte Herr
Noah, in der Regel habe er Sau, Zuhälter und ähnliches geäußert.
Dafür feien jedoch Sem und Japhet brave Kinder.
Der Verteidiger stellt hierauf an Herrn Noah die Frage, ob Cham in
die Schule gesandt worden sei.
Herr Noah entschuldigt sich, das sei wegen der Sintflut nicht möglich
gewesen, die Wege seien noch nicht auSgetrocknet gewesen und überdies
seien damals alle Volksschullehrer ertrunken. Nur ein einziger Bürger-
schullehrer habe sich gerettet und der sei vor Entsetzen irrsinnig geworden.
Verteidiger: „Herr Zeuge, warum haben Sie also dem Angeklagten
Cham keinen Hauslehrer genommen?"
„Die Hauslehrer sind ebenfalls alle ertrunken." (Allgemeine Be-
wegung.)
Verteidiger: „Als intelligenter Mensch hätten Sie ihm selbst die Grund-
lagen der Sittlichkeit einimpfen sollen."
Zeuge (mit erhobener Stimme): „Bitte sehr, hoher Gerichtshof!
Jedem ist gewiß bekannt, wieviel Mühe es mich kostete, die Menschheit
vor dem Aussterben zu retten, wieviel Nächte ich im Gebet verbrachte
und wie viele Tage ich brauchte, um die Tiere für mein Schiff auf-
zutreiben." (Zum Verteidiger gewandt:) „Glauben Sie, Herr Doktor,
es ist so leicht, Tiger auf ein Schiff zu tragen? Und dann soll man
sich noch um die Erziehung dieses Lausbuben kümmern?"
Cham ruft seinem Vater zu: „Alter Säufer!" Er wird vom Vor-