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JUGEND

3 7. J A'H RGANG 1932/NR. 48

V

verru

ro(Jffadt

Von Weare Hoolbrook

LL

Dem Neuyorker, der den besten Teil des
TageS damit verbringt, an den Straßen-
kreuzungen darauf zu warten, bis sich ein roteö
Licht in ein grünes verwandelt, muß das Gerede
von der ruhelosen Hast des Großstadtlebens
reichlich übertrieben Vorkommen. Der groß-
städtische Verkehr ähnelt immer mehr einen!
Gesellschaftsspiel, „Lebende Statuen" genannt,
welches darin besteht, daß die Teilnehmer zuerst
im Kreise tanzen und dann, wie durch den Blick
der Medusa versteinert, auf ein unerwartetes
Signal plötzlich stehen bleiben und ihre grotesken
Stellungen beibehalten, bis ein neues Signal sie
erlöst.

Es gibt Millionen Provinzler, die sich nicht
von der Meinung abbringen lasten, daß das
Leben in einer Großstadt hastend, nervenauf-
reibend und ausschweifend sei.

Als Tante Eulalia und Onkel AugustuS in
Neuyork ankamen, um einige Tage
bei den JestupS zu verbringen, war
Tante Eulalias erste Frage: „Sag
mir, haben sie den Pariser Klub schon
aufgehoben?"

„Den Pariser Klub?" sagte ihr
Neffe erstaunt, „wo gibt es den?"

„In der Z6sten Straße", unter-
richtete ihn Onkel AugustuS, „man
bekommt dort Absinth — besseren als
in Paris."

Jestup wußte, daß Onkel AugustuS
in seinen! ganzen Leben weder in Neu-
york noch in Paris gewesen war.

„Woher weißt du das alles, Onkel?"
fragte er.

„Aus dem Parkersburger Morgen-
kurier", erklärte Tante Eulalia. „Sie
haben dort eine tägliche Rubrik ,AuS
dem Neuyorker Sündenbabel'. Wir
verfolgen sie ständig."

Onkel AugustuS und Tante Eulalia
blieben drei Tage in Neuyork. Am
ersten Tage führte Jestup sie ins
Metropolitanmuseum, zum Wool-
worth-Wolkenkratzer, ins Aquarium
und zur Freiheitsstatue im Hafen. Es
war ein anstrengender Tag gewesen
und Jestup freute sich darauf, bald
ins Bett zu gehen. Aber auf deni

Heimweg sagte Onkel AugustuS: „Also zu
welcher Revue gehen wir heute, Fred?"

„Ich habe leider für heute keine Billette be-
sorgt. Wir glaubten, daß ihr nach der Reise
müde sein werdet..."

„Aber Fred!" antwortete Onkel AugustuS,
„wir wollen durchaus nicht, daß du und Fanny
unserctwegen euer gewohntes Nachtleben auf-
gebet. Ihr dürft euch durch uns in keiner Weise
behindern lasten. Vielleicht konnten wir unS die
,Bunten Wiesen' ansehen. Aber ihr wart ja
sicher schon dabei. „Nein", sagte Jestup be-
schämt, „aber ich weiß, daß die Karten für vier
Wochen auSverkaust sind." Onkel AugustuS
wußte jedoch Bescheid. Er hatte in ParkerSburg
von einem Portier in einen! Hotel in der Achten

Avenue hinter dem griechischen Restaurant ge-
lesen, wo man alle gewünschten Karten bekommt.

So erstand Jestup vier Billette zum Preise
von 26 Dollar vierzig. Erst als sie gegen drei-
viertelacht Uhr das Theater betraten, merkten
sie, daß die Karten auf den nächsten Tag
lauteten. Was blieb übrig, als die Gesellschaft
in eine jener Neuyorker Kinokathedralen zu
führen, wo man sich eine halbe Stunde um
Eintrittskarten anstellen muß, und dann zwei
Stunden daniit verbringen darf, von seinen
Plätzen auszustehen und sich wieder zu setzen,
um Zuspätkommende in die Sesselreihe zu lassen.

Am nächsten Tag nahm Herr Jestup Onkel
AugustuS auf die Effektenbörse mit und Frau
Jestup begleitete Tante Eulalia beim Einkäufen.
Tante Eulalia führte eine lange Liste mit sich;
aber anstatt all ihre Besorgungen in einem
größeren Warenhaus zu machen, wie es Frau
Jestups Gewohnheit war, raste sie auf
der Suche nach den Spezialgeschäften,
von denen sie in Parkersburg gelesen
hatte, die Straßen auf und ab.

Gegen fünf Uhr nachmittags schlug
Frau Jestup zaghaft vor, Tante
Eulalia möge doch ihre Porzellan-
schrveinchen in demselben Laden wie
ihr Bridgegedeck besorgen, was Tante
Eulalia in Entrüstung versetzte.
„Weißt du denn nicht", sagte sie,
„daß man Porzellanschweinchen nur
in Anne Luises VanderwertS Laden in
der Lasten Straße einkaufen kann?"
Gerne wären die JestupS an diesem
Abend zu Hause geblieben, um das
Konzert der Goldinan Band im Radio
zu hören, aber sie hatten ihre Karten
für die „Bunten Wiesen", Und nach
einstündiger Autofahrt gelangten sie
an daS Ziel ihrer Wünsche.

Nach dem Theater erklärte Tante
Eulalia, daß sie gerne einen Nacht-
klub besuchen wollte. Und eS zeigte
sich, daß sie in ihrem Notizbuche ge-
naue Aufzeichnungen über die wichtig-
sten „Speak-easies“ und Nachtklubs
führte.

Am folgenden Tage führten die
JestupS Onkel und Tante in den

Alptraum

Bruno Gutensohn
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Bruno Gutensohn: Alptraum
Weare Holbrook: Die verruchte Großstadt
 
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