DOI issue:
Nr. 28
DOI Page / Citation link: https://doi.org/10.11588/diglit.6777#0436
J u
3 8. JAHRGANG
N D
1 9 3 3 NR. 2 8
ADRESSBUCH DER GEFÜHLE
EIN MÜNCHENER FREMDENMÄRCHEN
Von Ernst Hoferichter
jn München schien die Sonne.
Der Portier eines GafthofeS mit Fremdenzimmern saß im Wirtschafts-
garten, zog die Hosen über die Kniee empor und ließ die Fleischfliegen
seine Krampfadern entlang krabbeln.
Von einem Balkon tropfte nasse Kindswäsche wie Siegellack auf
einen leeren Weißwurstteller und in der Luft lag der Geruch von an-
gewärmten Zigarrenkisten, Kastanienblüten und Rahmsaure in stillem
Durcheinander .. .
Die Tute eines Autos löste diese idyllische Ansichtskarte in seine Be-
standteile auf. Der Portier sprang wie eine Matratzenfeder in die Höhe
und torkelte an die Straße vor.
DaS Gesicht des Fremden sah wie ein Bogen Packpapier aus, auf
dem zu heftig radiert wurde. Ohne Neugier, gleich verstaubten Billard-
kugeln, waren die Augen eingesetzt und schienen erst durch Drücken auf
einen Knopf nach vorne zu kommen.
„Mister Ramrod — Brooklyn."
Schlüssellöcher und Ohren an der Wand versagten, um seine Person
aufzuhellen. Der Sinn seiner Reise war wie ein konfiszierter Filmstreifen
abgeschnitten.
Nach Mitternacht, wenn auf dem Rücken der Hinterhäuser die
letzten Fünfminutenbrenner vierstöckig aufleuchteten, stand Mister Ram-
rod am offenen Fenster seines Zimmers. Die Stadt lag wie eine Separat-
vorstellung um ihn aufgebaut. So stehen zuweilen gereiste asthmatische
Männer in Hemdärmeln und Hosenträgern vor einem JnhalationS-
apparat mit Tannenduft und erhoffen durch Drücken auf den Gummi-
ball befreite Bronchien...
Mister Ramrod hatte vor inehr als zwanzig Jahren den Patent-
hosenknopf „Fix" erfunden, zwei Ölquellen entdeckt, wie im Trickfilm
Millionen gewonnen — und dabei seine Gefühle verloren.
Er wurde Amerikaner, extra dry, lächelte vor Photoreportern wie
Idioten beim Anblick eines Reklameluftballons — und wenn fein
Seeleninventar wie ein Finger in den Spalt einer Türe eingezwickt wor-
den wäre, hätte er dabei kein Gefühl mehr als Erlebnis gebucht.
Im Klub „Chewing Gum“ erzählten Geschäftsfreunde, die aus
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3 8. JAHRGANG
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ADRESSBUCH DER GEFÜHLE
EIN MÜNCHENER FREMDENMÄRCHEN
Von Ernst Hoferichter
jn München schien die Sonne.
Der Portier eines GafthofeS mit Fremdenzimmern saß im Wirtschafts-
garten, zog die Hosen über die Kniee empor und ließ die Fleischfliegen
seine Krampfadern entlang krabbeln.
Von einem Balkon tropfte nasse Kindswäsche wie Siegellack auf
einen leeren Weißwurstteller und in der Luft lag der Geruch von an-
gewärmten Zigarrenkisten, Kastanienblüten und Rahmsaure in stillem
Durcheinander .. .
Die Tute eines Autos löste diese idyllische Ansichtskarte in seine Be-
standteile auf. Der Portier sprang wie eine Matratzenfeder in die Höhe
und torkelte an die Straße vor.
DaS Gesicht des Fremden sah wie ein Bogen Packpapier aus, auf
dem zu heftig radiert wurde. Ohne Neugier, gleich verstaubten Billard-
kugeln, waren die Augen eingesetzt und schienen erst durch Drücken auf
einen Knopf nach vorne zu kommen.
„Mister Ramrod — Brooklyn."
Schlüssellöcher und Ohren an der Wand versagten, um seine Person
aufzuhellen. Der Sinn seiner Reise war wie ein konfiszierter Filmstreifen
abgeschnitten.
Nach Mitternacht, wenn auf dem Rücken der Hinterhäuser die
letzten Fünfminutenbrenner vierstöckig aufleuchteten, stand Mister Ram-
rod am offenen Fenster seines Zimmers. Die Stadt lag wie eine Separat-
vorstellung um ihn aufgebaut. So stehen zuweilen gereiste asthmatische
Männer in Hemdärmeln und Hosenträgern vor einem JnhalationS-
apparat mit Tannenduft und erhoffen durch Drücken auf den Gummi-
ball befreite Bronchien...
Mister Ramrod hatte vor inehr als zwanzig Jahren den Patent-
hosenknopf „Fix" erfunden, zwei Ölquellen entdeckt, wie im Trickfilm
Millionen gewonnen — und dabei seine Gefühle verloren.
Er wurde Amerikaner, extra dry, lächelte vor Photoreportern wie
Idioten beim Anblick eines Reklameluftballons — und wenn fein
Seeleninventar wie ein Finger in den Spalt einer Türe eingezwickt wor-
den wäre, hätte er dabei kein Gefühl mehr als Erlebnis gebucht.
Im Klub „Chewing Gum“ erzählten Geschäftsfreunde, die aus
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