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1 93 4 /

J u G

39. JAHRGANG

D

NR. 18

DAS El

EINE KOMÖDIE DES LEBENS VON MAX BITTRICH

enöanf a. D., Posaunenbläser aus ererbter Lieb-
haberei und Amateur-Philosoph Paul Hähnchen
befand sich auf dem Heimgang nach seiner Jung-
gesellen-Wohnung.

Auch sein Vater war Rendant gewesen und hatte
sich abends mit Erkenntnistheorie beschäftigt. WaS
den Posaunisten anlangt, so hing in Hähnchens
Bücherstube neben Totenkopf, Eule und Posaune unter Glas und Rah-
men eine hundert Jahre alte Todesanzeige, durch die eine Frau aus
Hähnchens Sippe kundtat:

„Mein teuerster Ehegatte, der Stadt-Zinkenist, hatte das
schmerzhafte blnglück, gestern mittag halb zwölf blhr, indem er
durch allzu große Verlängerung eines in seinem Beruf gebla-
-senen Trillers daS Gleichgewicht verlor, vom Kirchturm zu
stürzen. Wer die edle Seele meines Ehegatten kannte, wird die
Große meines Derlusts, und wer den Turm kennt, die Hohe
dieses blnglücksfalls zu schätzen wissen."

Oer Nachkomme Hähnchen war trotz widrigein Geschick ein Mann
von Haltung. Nur drückte ihn jetzt daS Übergewicht unheilvollen
WidersachertumS. Er, der immerhin wertvolle Erdenpilger, wurde von
seiner Haushälterin Witwe Berta Graziali geärgert, die, ehemals
gefällig, ihn zu jahrelangen Verpflichtungen bewogen hatte, nun aber
ranzig, sozusagen denaturierter Spiritus war.

In bösem Zwiespalt hatte sich Hähnchen in den Philosophenkopf
gesetzt, der Frau wenigstens die schlimmste Unart, die mit den Hühner-
eiern verbundene, abzugewöhnen.

War doch Frau Graziali in wirtschaftlichen Dingen zuverlässig, in
Küchenkünsten unantastbar. Nur diese eine verdammte Widerspenstig-
keit, der Überfall vor dem Essen, war unerträglich. Dutzendmal hat
er sich die verhaßte Frage verbeten, lauwarm und knisternd. Auf alles
geht die Frau willig ein, nur vor diesem Einspruch bleibt sie taub.
DaS macht ihn rasend. Dabei ficht ihn sonst selten daS Menschlich-
Kleinliche an. Kennt der Philosoph doch die Elnvollkommenheit der
Kreatur. Der Höherstehende muß über Mängel des Nächsten hinweg-
sehen.

Nach der Doktrin deS Empedokles —

„Herein!"

„Wünscht der Herr Hähnchen —"

„Nein, tausendmal nein!" schreit er. „Sie sollen diese Frage unter-
drücken!"

„Und Sie sollten gelassener sprechen, Herr Hähnchen! Wozu stellen
Sie den Totenkopf auf Ihren Schreibtisch, wenn er nicht zu Ruhe
und Güte mahnt?"

„Kümmern Sie sich um Ihren Schädel und nicht um fremde, Sie
bockbeinige Person."

„So viel Ungestüm um ein lumpiges Ei —"

„Nein, Sie quälen mich durch üngehorsam, Sie unbarmherziges
Weib."

„Weib! Ein wenig galanter dürften Sie sein. Woher wissen Sie
überhaupt, was ich heute fragen wollte?"

„Ich kenne Ihre Absicht auswendig, nach jeder Melodie kann ich
Ihre üble Nachfrage singen. Sie aber schinden niich mit Ihrer Iln-
vernunft weiter."

„Schinden! Weil ich mich ganz artig erkundige, ob Sie ein Ei'—"

„Das eben soll unterbleiben. Ich selbst will bestellen, was ich brauche.
Ich will. Hören Sie: ich will!"

„Wird unsereins zur Verbrecherin, wenn man einfach wissen möchte,
ob ein hartes oder ein wei —"

„Schweigen sollen Sie. Keine Silbe mehr!"

Die Wut nimmt ihn gefangen, er hebt den Arm.

Schon fliegt die Tür zu: „Der Mann ist übergeschnappt. Um ein
lappiges Ei diese wahnsinnige Komödie!"

„Kanaille!" Mit diesem Wort sucht Hähnchen den Rest wilden
seelischen Aufruhrs auszukeuchen. Am liebsten spränge er dem schul-
digen Wesen an den Hals. Seine Hände krampfen sich zusammen.
„Erwürgen!" wagt er zu denken.

Er überprüft die Fähigkeit des Staubgeborenen, den Nebenmenschen
völlig zu begreifen, nimmt etwas Brom, und nachdem er noch ein
Weilchen sich abgetastet und abgehorcht, lenkt ihn Halbschlummer in
die Flut unbewußten Seins. Phantastische Nebel umwogen daS Hirn.
Neben Frau Graziali erblickt er sich in merkwürdig verzerrter Form.
Beide Menschen stehen sich windhundartig stilisiert gegenüber, springen
sich wie wütende dürre Hühner an, in welcher Bataille sie zugleich
Eier gegen den Angreifer schnellen. Weiterhin glaubt sich Hähnchen
von lauter Hühnern, Gänsen, Enten umschwirrt, die stimmgewaltig
gewisse hartschalige Geschenke ankündigen, weiße und gebräunte. Tolle
Geflügelfarm!

Verstört erhebt er sich morgens. Der Totenschädel ruft sein Me-
mento mori! Verständig sein! mahnt die Eule. Unwichtiges auf die
leichte Schulter nehmen!

Trotzdem läßt Hähnchen das Frühstück unberührt. Eines der Bröt-
chen steckt er ein und eilt ins Freie. Die Fische im Botanischen Garten
und Naturpark sollen seine oft bewiesene Güte abermals erfahren. Bei
ihrer Stummheit ist süßes Ruhen.

Blumen duften. Tauben gurren. Fische schnappen nach Hähnchens
Brot. Schildkröten kriechen am Teichrande.

Allerhand Besucher durchschlendern die Anlagen, tauschen vor frem-
dem Gesträuch und Getier ihre Weisheit aus.

„Was behaupten Sie? Nein, Herr Oberzollinspektor, über diese
Sache weiß ich unantastbar besser Bescheid: mein auSgewanderter

Schwager am Orinoko hat selbst beobachtet, wie Indianer Schild-
kröten-Eier als Leckerbissen schluckten."

„Ja, Indianer! DaS mag sein, Herr Schäfer!"

„Mein Schwager nimmt auf den Eid, daß diese Eier —"

Hähnchen spürt die Schildkröten-Eier im Magen.

„Warum sollten Schildkröten-Eier zu verachten sein, Herr Ober-
zollinspektor! Doch reden wir von andern Dingen."

Hähnchen ist einverstanden. Muß man über Eier auasseln? Ver-
kalkte Gesellschaft! Die Juaend ist sympathischer. Einige Schüler
nahen, unterhalten sich von Staubfäden und Stempeln, bewundern die
Fische im Teich, sprechen am Schilf von Teleskop-Augen und Büschel-
kiemern, während ein Lateiner sich mehr den Sippen der Aranthop-
terygii und der Malaropterygii, den Stachel- und den Weichflossern,
widmet.

„Ouatsch!" entgegnet ihm ein nach deutschem Ausdruck neigender
Begleiter. Neugierig erkundigt er sich, ob auch gefangene Fische normal
laichen.

„Die meisten sicher."

„Wieviel Eier legt so ein Stichling?"

„Etwa hundert."

Hähnchen erhebt sich. Schreckliche Zeitgenossen, müssen auch hier
über Eier schwätzen!

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Max Bittrich: Das Ei
 
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