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J u

3 9. JAHRGANG

o unser Herr Vikar so
lange blei'bf? Hat er
sich ber.n heute schon
sehen lassen?" fragte
Frau Pfarrer Wolf
ihre Tochter, die ge-
rade daS Frühstück
austischte.

„I glaub', er liegt im Bett und schwatzt
mit seinem Star!"

„Ja, hat er denn auch einen Staren im
Z'mmer? Er scheint ja ein recht großer Tier-
freund zu sein."

„Du weißt das nicht? O, er hat auch eine
Amsel auf der Stube. Die läuft so gravitätisch
umher in ihrem schwarzen Nock, als wäre sie
und nicht er der Vikar. Neulich meinte auch
der Eduard — ah! der Herr Vikar —, daß er
gerne mit der Amsel oder dem Staren tauschen
möchte. Der schwarze Rock stünde diesen
Vögeln von Natur besser als ihm, — und
wenn es schon sein müßte, freue ihn der Ge-
sang mehr als die schwarze Vikarswürde!"

„Ach, der unglückliche Mensch!" sagte die
Psarrerin. „Man hört's ja überall, daß ein
ganz begabter Dichter in ihm steckt. Im ,Mor-
genblatt' und in der ,Damenzeitung' werden
seine Gedichte gedruckt. Wenn man ihm nur
Helsen könnte! Aber weißt du, Nike, eS ist doch
sehr traurig, wenn einer Vikar mit Wider-
willen ist und Dichter nicht ganz sein darf!
Aber ich habe ihn doch sehr gern im HauS. Er
versteht sich recht gut mit unseren Bauers-
leuten und versieht auch seinen Dienst ganz
ordentlich, — seit unser Papa gestorben ist."

Da tönten neun kräftige Schläge von der
großen Uhr der Dorfkirche und zu gleicher Zeit
riß der KirchenmeSner, zugleich Postbote für
das Pfarrhaus, so heftig am Klingelzug, daß
daS schrille Geläute der Hausglocke die beiden
Frauen jäh erschreckte.

Nike sprang die Treppe hinab, so schnell sie
konnte.

Ein kühler, herbstlicher Luftzug brauste in
den Hausflur, als sie das große Tor deS herr-
schaftlichen Pfarrhauses öffnete. Ohne sich auf-
sordern zu lassen, drang der MeSner Roeckle
in das HauS, verlangte nach der Frau Pfarrer
und ließ sich auf keine Frage der neugierigen
Nike ein.

Als er die Treppe hinaufgestampft war,
machte er auf dem Vorplatz plötzlich halt und
rückte die Mütze vom linken Ohr. „WaS ischt
des?" fragte er. Im Oberstock war lauter
Lärm. Schallendes Gelächter einer wohllauten-
den Männerbaßstimme vermischte sich mit hef-

o E

Vikar Märtte

von Georg Schwarz

tigem, vielstimmigem Vogelgezwitscher, das sich
wie Zank und Schimpfen anhörte, aber doch
heiter klang. „Ischt des der Vikar?" —

„3a", sagte Nike zögernd und fügte hin-
zu: „Er ist aber nicht zu sprechen!"

Im Wohnzimmer entledigte er sich seiner
Post. DaS war ein kleiner, zierlicher Brief an
den Herrn Vikar Mörike und an denselben
auch ein umfangreicheres Päckchen, Gedrucktes
enthaltend. „Ich soll auch der Frau Pfarrer
die unangenehme Mitteilung machen, daß der
alte Walz vi8-ä-vi8 heut nacht gestorben ist.
Gott Hab' ihn selig! Er war der fleißigste
Mann und der ärmste Tropf in der ganzen
Gemeinde. Der Herr Amtsverweser möchte
daS doch gefälligst in seiner Leichenrede be-
merken!"

In beinahe tadellosem Schriftdeutsch, mit
merklicher Anstrengung und unerfindlich lauter
Stimme hatte Roeckle seine Sache vorgebracht,
blieb aber noch stehen, als warte er auf etwas.

Die Psarrerin tauschte einen vielsagenden

E. Berger

Mörike

N D

1 9 3 4 / N R. 2 7

Blick mit Nike, die gut verstand und aus einem
Wandschränkchen die gebauchte Flasche mit dem
Kirschengeist hervorholte. Roeckle atmete auf.
Als er fein Gläschen getrunken hatte, fragte
ihn Nike lächelnd: „Noch eins?"

„Ja, noch eins!" sagte er.

„Spricht er denn immer noch mit seinem
Staren?" fragte die Psarrerin nach einer
Weile.

„O ja! Meinst du nicht, wir sollten ihn ein-
mal belauschen, Mutter?"

„Hoffentlich merkt er'S nicht!"

Die beiden Weiblichkeiten machten sich so
leise als möglich auf den Weg. Die Stiege
knarzte zwar verräterisch, aber der saumselige
Vikar im Bett merkte nichts im Eifer seiner
rednerischen Improvisationen.

„Hui, hui! Was suchen Sie in meinem
Tintenfaß, Meister Starmatz?" rief er laut.
„Fehlgetreten, verehrter Herr! Soll ich Ihnen
aus der schwarzen Brühe heraushelfen? Gott-
lob! Es gelingt Ihnen selbst. Schaudert Ihnen
nicht auch vor dieser trübseligen Essenz, diesem
Allheilmittel gegen melancholische Gemüts-
zustände, diesem blrelement unseres tinten-
klexenden SäkulumS, um Karl Moor zu
zitieren? Hu, welch ein Schauder des Ab-
scheus schüttelt euren geschmeidigen Leib! Jetzt
aber, o Gott! Mein teueres Postpapier in
Leinen! Bitte, sind Sie nicht so ungehörig, eS
mit ihren beklexten Kratzfüßen ganz zu be-
schmieren. Ich bin der ärmste Vikar im ganzen
Deutschen Reich und außerdem ... Bitte, bitte!
Und jetzt wollen Sie mir Ihre aeistvollen
Sudeleien auch noch vorenthalten? Bitte, ein
Blatt von Ihrer werten Hand! Ich bin Auto-
graphensammler."

Das kuriose Selbstgespräch des Herrn Vikar
brach plötzlich ab und die Stimme des Staren
ließ sich laut kreischend und plappernd ver-
nehmen.

Die Pfarrerin auf dem Oehrn schüttelte be-
lustigt den Kopf und Rike mußte sich Mühe
geben, ein Kichern zu unterdrücken.

Auf einmal dröhnte ein überlautes Gelächter
aus der Stube und ein Krach erfolgte, wie
wenn sich eine erwachsene Person mit ganzer
Wucht auf eine Bettlade wirft.

„Welch eine hochinteressante Entdeckung,
mein hochverehrter Herr!" klang es ln geän-
dertem Ton.

„DaS Inkognito Ihrer mysteriösen Person
ist gelüftet. Sie sind — Virtuose, Violinist!
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Einar Berger: Mörike
Georg Schwarz: Vikar Mörike
 
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