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Bitte, unterbrechen ©ic mich nicht! Das Daten-
blatt in meiner Han-) erklärt alles. Ihr schein-
bar unbeabsichtigtes Geschreibsel wird durch
meine Kenneraugen entlarvt und ist ein raffi-
niertes Violinsolo im italienischen tetil. Sere-
nada aber Sarrabande? — Keine saljche Be-
scheidenheit, Maestro Tartini!"

Da unterbrach der Star den niederpras-
selnden Redesturz mit so erregtem Geplauder,
daß es sich wirklich anhörte, als verstünde er
die lobhimmelnden Worte des pp. Mujik-
kenners, als sehe er sich mit Ausdrücken
schämiger Bescheidenheit zur Wehr. „Mein
Herr, gestatten Sie mir ein weiteres über die
hochinteressante Materie!" fuhr der Musik-
kenner fort. „Die italienische Musik in allen
Ehren — aber finden Sie nicht auch, daß
Ihre hochverehrten Maestros, hin! im Ver-
gleiche mit den Herren Gluck, Händel und
Mozart und ihrer goldgediegenen Kunst nut-
seichte Schnörkler von bestechender Routine
sind? Kennen Sie z. B. die unvergängliche
,Zauberflöte' des letztgenannten, die Oper der
Opern, die meisterliche Glanzleistung, klastisches
Muster und ewiges Vorbild zugleich?"

Bald sanft, bald schmeichelnd, bald in den
rasendsten Ausdrücken seiner kauderwelschen
Waldsprache begann der Star zu widersprechen
und überschrie die bescheiden vorgebrachten Ein-
lvände seines Gesprächspartners, der sich zuletzt
genötigt sah, den Disput zu unterbrechen, in-
dem er sich erregt auf seine Musikkennevschaft
berief und sich wiederholt vorstellte als der weit-
bekannte, vielgereiste 6e!-68prit und 0ommi8-
voyageur:

Liebmund Maria Wispel!

Jetzt konnte die Pfarrerin nicht mehr an sich
halten und lachte laut auf. „Ist jemand
draußen, Rike?" rief die Stinrme kleinlaut aus
der Stube.

„Ach, verzeihen Sie, Herr Vikar, daß wir
Sie belauscht haben. Wir wollten Sie nur zum
Frühstück bitten und sagen, daß wichtige Post
da ist!" — „Auch ein Briefchen von Platten-
hardt!" rief Nike.

„Ah, ich komme gleich."

Es dauerte nicht lange, bis der Vikar mit
großen Sprüngen über die hölzerne Treppe
herunterkam und im Wohnzimmer des Pfarr-
hauses erschien. Seine blauen Augen schauten
gut auSgeruht und frisch durch die funke'nden
Brillengläser. Seine Laune war sehr fröhlich.

„Bevor ich Ihnen Ihre hochwichtige Post
ausliefere, Herr Mörike, hören Sie zuerst eine
örtliche Hiobspost. Der alte Walz ist gestorben.
Sie kannten ihn ja und werden dein fleißigen
Manne in der Leichenrede sein gebührendes
Ehrenkrönle.'n nicht versagen können."

Der Vikar machte ein trauriges Gesicht und
sagte: „Der arme Tropf hat heute nacht viel
leiden müssen. Ich Hab' ihn über den Hof her-
über stöhnen hören."

„Run wollen wir aber den Herrn Vikar mit
der Post allein lassen. Komm, Rike, wir haben
im Garten zu tun!" Die beiden Frauen waren
schnell verschwunden und die Türe fiel zu.

^An ein halboffenes Fenster gelehnt, genoß
Mörike mit wachen Sinnen den Zauber des
kräftigen HerbstinorgenS, den herbst kühlen
Hauch der Luft, die nach Shmd, Obst, Wein

und frischem Laub roch, und folgte mit den
Augen der Wogenlinie des Waldes, der beider-
seitig daS keilförmig zulaufende ^,al der GlemS
bis zu ihrem Ursprung begleitete.

Unter seinen Augen lag der wildverwachsene
Pfarrgarten mit der Feuerbohnenlaube, die er oft
in musischen Augenblicken aufzusuchen pflegte.
Langsam kehrte sein Blick aus der Ferne zu-
rück. Heute war ein Freudentag für ihn. Ein
Blick auf das geschnürte Paket und seine Ab-
senderadresse unterrichtete ihn, daß der Druck
seines Romans „Maler Volten" begonnen
hatte. DaS Paket enthielt die ersten Korrektur-
bogen. Er scheute das nun bevorstehende, pein-
liche Geschäft der Verbesserung und Durchsicht
nicht, aber bevor er sich ihm unterziehen lvollte,
nahm er rasch den kleinen Brief zur Hand, der
schon lange auf ihn wartete. DaS Briefchen
wieS e'ne sanfte Wölbung auf. Er befingerte
die nachgiebige Stelle und stutzte einen Augen-
blick, lächelnd.

„Gut erraten! — Eine Locke von ihr!" sagte
er leise, den Brief öffnend. Während er die
Zeilen las, hielt er das goldblonde Geringe!
leicht auf der flachen Rechten.

Er vergaß sich ganz über dem holden Ge-
plauder des Briefchens, las einmal, zweimal,
dreimal.

Ein unmerklicher Windhauch bewegte das
andere Fenster.

Er schaute auf — die Locke war nicht
mehr da!

Schon trug sie der Wind fort, sie flog,
schwebte langsain über den Garten. Er rief.
Er schrie. Der Pfarrerin, der Rike. „Die Locke!
Eine Locke von Luise! Fangt sie doch! Hascht
sie doch!"

Verzweifelnd beugte er sich über das Fenster,
fuchtelte mit dem zerknitterten Brief in der
Hand, deutete in die Luft und wies der Pfar-
rerin die Richtung des fortschwebenden Löck-
chens. —

Die Pfarrerin hatte Glück. Sie erhaschte eS
mit zwei Fingern der Hand. Wie dankbar war
der Vikar. Er lief in den Garten und holte
die Fluchtverdächtige.

Schon wieder stand er am Fenster und
träumte.

Was sollte es bedeuten, daß ihm die Locke so
unversehens hatte entwischen können? Hielt er
sein Glück nicht fest genug in Händen? Er
mußte sich gestehen, daß schon seit einiger Zeit
Schatten am Horizont seines Lebens aufge-
stiegen waren.

Der Tod seines Bruders August, das Un-
glück seines älteren Bruders, der in politische
Händel geraten war und nun auf dem Hohen-
Asperg büßte, seine eigene ewige Vikarsmisere
— es standen genug schlimme Zeichen für ihn
am Himmel.

Schien es nicht, als ob die Angehörigen seiner
Braut gewisse Zweifel in ihn setzten, seinem
Willen zum geistlichen Beruf mißtrauten?
Hatten sie ganz unrecht? —

Aber noch konnte er sich auf daS Herz seiner
Luise verlaßen! Sie war weder kühl, noch be-
rechnend.

Er trank noch mit vollen Zügen den Becher
dieser jungen Liebe, die ihn frei machte und
zum Dichter erhob.

Roch nie war ihm daü Leben, das tägliche
Leben so herrlich vorgekomnien. Tief spürte er
die menschliche Daseinsluft, die selige AdamS-
wonne, von der er zu singen voll war.

Keinen Tag konnte er vergehen lassen, ohne
einen Brief an daS liebe Mädchen zu schreiben,
für sie etwas Ernstes und Schalkhaftes zu
dichten. — Auch jetzt, wie er so am Fenster
stand und sich seinen Gefühlen überließ, be-
rührte ihn der Gott der Lieder, zogen Bilder
von anakreontischer LebenSheiterkeit in ihm ein.
Wie? — Wenn er den Vorfall mit der ent-
flohenen und wieder eingefangencn Locke be-
handeln würde? — Vielleicht im Stil der
tändelnden Schäferzeit? Etwa so:

„Ach, wie schalkhaft Amor handelt
Und ein zärtlich Herze schreckt,

In Zephiren sich verwandelt,

In die Windsbraut sich versteckt!

Unwillkürlich reimte er flüsternd weiter:

Lillj schickte mir ein Löckchen
Jüngst im zierlichen Kuwert,

Und ich trug das goldne Flöckchen
Engelselig hin uud her.

Wie den Mädchen ihre Docke,

Knaben oft ihr Schaukelpferd,

War mir Lillis härene Locke
Mehr als Gold und Gulden wert.

Aber als ich in der Kammer
Unbesorgt am Fenster stand,

Kam der Schelm tlnd blies, o Jammer,
Mir mein Schmuckstück aus der Hand.

Zappeln, ach, und Arme strecken
Half mir nichts vor diesem Wind,

Und ich rief im höchsten Schrecken
Nachbarn an und HauSgesind.

Amor lvollte mir nicht schaden,

Scherzte nur — zum guten Schluß
Waren auch Frau Pfarrers Waden
Schneller als MercuriuS.

llnd sie hat mit kühnem Sprunge
Mein Jmvelen-Stück erwischt,

Grad als eine freche, junge
Elster schon darnach gezischt.

Wie doch Amor schalkhaft handelt
Und ein zärtlich Herze schreckt,

In Zephiren sich verlvandelt,

In die Windsbraut sich versteckt!

Die Ballade erschien ihm reichlich geziert,
aber den gleichlautenden Anfangs- und Schluß-
vers lvollte er sich doch merken und in einem
Brief an Luise scherzhaft einflechtcn.

Da — wurde er unvermutet gestört. Rike
stand lachend unter der Tür mit der Gießkanne
ill der Hand. Sie hatte ihn belauscht.

Verdutzt sah sich der Dichter um — und
stimmte dann laut in ihr helles Gelächter ein.

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