Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
J u

4 1. JAHRGANG

G E N D

1 9 3 6 / N R. 4 4

TROST

Ehrliche Fäuste liebt Gott oft mehr
Als betende Hände, die lügen so sehr,

Die lügen Demut und kindliches Dun,

Und sind voll Ehrgeiz und wollen Ruhm.

Gott ist kein Richter, kein Wurm und kein Hund!

Wird ihm die trotzige Faust oft zum Mund,

Wird ihm die Faust oft zur Träne, die fleht —

Mehr als der Frömmler winselnd Gebet,
öffnet er leis oft die Faust und die Pein —

Legt einen goldenen Stern dann hinein.

Jacob Ring

Die Pension am Mittelmeer

Q ln cOcler ‘ cJcf,

„Wie haben Eie geruht, Süßes — war es
besser diese Nacht?"

„O Liebling — es war schauderhaft' bim
zwei wachte ich von einem Gerät!sch aus —"

„Non einem Geräusch — Barmherzigkeit?
Sprechen Sie, Liebling — foltern Sie mich
nicht!"

„So laß mich doch auSreden, Süßes! Es
ist bestiinmt ein Tier gewesen, Ich zitterte bis
in die Zehenspitzen, mein Herz schlug —"

„Armer Liebling! Vielleicht eine MauS —"

„Des! — du erschrickst mich zu Tode! Sprich
nicht von so entsetzlichen Dingen!"

„Ich bin außer mir! Mein armes Herz —
nahmen Sie die Limonade?"

„Ich nahm sie, Desi — und schlief endlich
ivieder ein. Aber ich wurde von schrecklichen
Träumen gequält."

„Geben Sie mir Ihr Händchen — eS ist
noch ganz kalt — Sie Ärmste!"

„Mas habe ich nur geträumt? Ach, richtig
— von einer Ameise, die mir am Bein empor-
lies —"

„£) fürchterlich — sprechen Sie nicht weiter!
Wir wollen Kamillentee trinken und ich lese
Ihnen aus dem Brevier vor."

Waren es zwei goldlockige Kinderchen, die
sich so unschuldig unterhielten? Nein, es waren
die sechzigjährige Komtesse Ieanne Mourdedieu
de la Roquefoucauld und ihre uralte Freundin
und ehemalige Erzieherin Desiree, kurz Desi
genannt. Sie Jaßen in einer Pension am
Mittelmeer unter einem gewaltigen roten Son-
nenschirm und tranken Tee.

Die Pension gehörte einer verarmten deut-
schen Familie, der nichts übrig blieb als die
Gäste, so wie Gott sie gab, mit gutem Humor
hinzunehmen. Fratl Schneidewin, die Leiterin
des Unternehmens, gab sich tapfer und fleißig
alle Mühe. Ihr Gatte, der wegen seiner-
kranken Lunge im Süden leben mußte, biß die

'Zähne zusammen und fluchte in seinem Privat-
zimmer unterm Dach über die Heimsuchungen,
deren sie doch so dringend zu ihrem Unterhalt
bedurften.

Die Komtesse war in ihrer Jugend längere
Zeit in Dresden gewesen und lebte in der irrigen
Vorstellung, die deutsche Sprache geläufig zu
beherrschen. Zum Beweise dessen bezeichnete
sie sich gern als eine „talentvolle Sprachnerin".
Sie fand es „kömisch", daß eS Menschen geben
solle, die nicht jede Sprache nach Wunsch be-
herrschten und zog sich grollend in ihren
„Lebe-Raum" zurück, wie sie ihr Wohnzimmer
nannte, wenn jemand über ihr Deutsch eine
Miene verzog. Das war also die Dame, die
auf dem Rufnamen SüßeS bestand. Desi da-
gegen, die von ihr geduzt wurde, hatte die
lebenslängliche Pflicht, die Sechzigjährige wie
einen Backfisch zu behandeln. Im Verlauf
dieser Aufgabe hatte ihr Verkehrston allmäh-
lich die Form des eingangs erwähnten Gedal-
bers angenommen, das ihnen beiden um so
mehr zur Lebensnotwendigkeit geworden war,
als sie mit ihrer Zeit nichts anzufangen wußten.
Denn nicht immer konnte die eine nur auS dem
Brevier vorlesen und die andere ihre Träume
berichten; zwischenhinein mußten sie auch beide
ihre Umwelt ein bißchen in die Hechel nehmen.

Die Deutschen hätten zuweilen allen Grund
gehabt, auS der Haut zu fahren und man
inußte ihnen die Fähigkeit, die seltsamen Gäste
mit Huittor zu nehmen, hoch anrechnen.

Jeden Morgen beim Frühstück spielte jich
der gleiche Vorgang ab. Die beiden alten
Damen thronten in hochgeschlossenen schwarzen
Gewändern mit breiten dunkelvioletten Seiden-
tüchern um die Schultern am Tisch und sahen
mit strengen Blicken nach der Standuhr. Zwei
Minuten über die vorgeschriebene Zeit erschien
Benedetta, das italienische Mädchen, mit dem
Frühstück. Vernichtende Blicke trafen die Arme.

Herr und Frau Schneidewin sahen sich schivei-
gen d an und warteten ergeben auf das Kom-
mende. „Süßes" stieß mit dem scharfen
Schnabel der aristokratischen Nase auf die
.Kaffeekanne herab, schnüffelte vornehm und
zirpte:

„•D Desi — soll dies Kaffee sein?"

„Es soll Kaffee sein, Süßes — glauben
Sie mir!" zwitscherte Desi mit einer Grimasse,
die noch süßer war als ihre Stimme.

Herr Schneideivin ballte die Hände und
schien losbrechen zu lvollen. Aber ein recht-
zeitig einsetzender Husten, den er mühsam zu
tinterdrücken versuchte, bewahrte ihn vor einer
empfindlichen Geschäftsschädigung. Seine Fratl
atmete erleichtert auf und erblaßte zugleich aus
Sorge um seine Gesundheit.

DaS Gezwitscher der alten Damen über ihre
Traumerlebnisse wurde durch den Anschlag der
Glocke unterbrochen.

„Post!"

Alle sahen erwartungsvoll auf.

Das Mädchen Benedetta rannte zur Tür,
erschien aber nicht mit Briefen, sondern wurde
durchs Fenster im Garten sichtbar, wo es hin-
gebungsvoll eine Karte studierte. Die Komtesse
fuhr wie von einer Natter gebissen empor und
zischelte etwas auf Französisch.

„Um Himmels willen!" seufte Frau Schneide-
evin und wollte sich erheben. Aber schon war
die Komtesse, sehr im Widerspruch zu ihrer
sonstigen aristokratischen Haltung, hinauS-
gerauscht und hatte dem Mädchen die Karte
auS der Hand gerissen. Ein unvornehmes Ge-
heul und Getrampel erhob sich. Benedetta
weinte und schrie, die Karte sei ihr Eigentum;
ihr Vater habe ihr zum Namenstag Glück
gewünscht. Die Komtesse kam hereingesegelt
und schrie erregt, sie sei an bessere Manieren
gewöhnt. Die Dienstboten hätten die Post auf
einem Tablett hereinzubringen, uni zu warten,

690
Register
Jacob Ring: Trost
Peter Scher: Die Pension am Mittelmeer
 
Annotationen