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Das Phantom von Ma

Q^on fjean (Socteai

Seit vier Tagen lebte Achill als Iran ver-
kleidet in den Frauengemächern. Aber es han-
delt sich hier nicht um den Achill der Legende
und ihr bekommt keine griechische Erzählung
vorgesetzt. Der Achill, von dem ich euch berichte,
war Araber, seine Mutter Marseillerin; er war
zwanzig Jahre alt und sah aus wie fünfzehn.
Sein bartloses, gemeißeltes Gesicht, seine
schlanken Hüften, seine schmalen Gelenke er-
laubten es diesem jungen Schlingel glänzend,
Kleider einer Mode zu tragen, durch die sich die
Frau dem Epheben anzugleichen versucht. Wir
müssen eingestehen, daß er sich versteckte, oder-
genauer, daß man ihn versteckte, ihn den Nach-
forschungen der Polizei entzog; daß diese von
einer Frau namens Marthe ausgesonnene List
deren Gefährtinnen herzlich belustigte und daß
diese Gefährtinnen und diese Rachel, weit
weniger bekleidet als unser Held, ihn mit ihrem
Lachen in einem geheimen Kämmerchen eines
übel beleumundeten Hauses in Marseille um-
gaben.

Marche liebte Achill. Achill liebte sie. Er trug
gerade soviel an grausamer Gleichgiltigkeit zur-
Schau, wie nötig war, um seine Rolle in dieser
Umwelt zu spielen, einer Umwelt, in der, außer
bei seltenen Gelegenheiten, Zärtlichkeit nicht
gezeigt wird.

DaS Unglück hat es gewollt, daß sich Achill
von Viktor (einem Kameraden) zu einem Ein-
bruch verleiten ließ und daß, als die Polizei
ihn suchte, Marthe und ihre Kolleginnen die
Kühnheit hatten, ihn zu verkleiden und unter
ihre Truppe einzuschmuggeln. Madame, durch
die Liebenswürdigkeit Achills gewonnen, machte
sich zu-r Mitschuldigen der Kriegslist und seit
vier Tagen suchte man Achill, der, wie der
AchilleS der Mythe, in Frauenkleidern im
Frauengemach verborgen war.

Leider haben auch die besten Dinge ein Ende!
Madame sah eine Haussuchung voraus und eö
wurde beschlossen, daß unser Held die „Rote
Laterne" verlassen und sich in den dunklen
Gäßchen herumtreiben sollte, bis neue Weisung
erfolgte.

Die ersten Schritte auf der Straße belustigten
Achill. Die Verkleidung gab seiner Flucht etwas
Karnevalistisches und die Drolligkeit verbarg
ihm das Draüia. Sie verbarg es ihm so gut,
daß er sich gegen acht blhr abends erst auf den
Kai und dann mitten auf die Cannebiöre
hinauSwagte. Dort war es, daß er Marthe auf
dem Gehsteig erblickte. Im Bestreben, ihr auS-
zuweichen, flüchtete er auf die Fahrbahn. Der
erstaunte Blick eines DerkehrSschuhmannS er-
innerte ihn, daß die Riesenschritte, die er soeben

rseille

gemacht hatte, nicht sehr zu seiner derzeitigen
Aufmachung passen dürsten. Er wollte zu rasch
den Schritt wechseln, zauderte, geriet in den
Verkehrsstrom Marseilles, der berühmt ist ob
seiner Unordnung, und strauchelte, überfahren
fast von einer Limousine.

Er fand sich im Handumdrehen inmitten einer
gestikulierenden Menschenmenge, emporgehoben
von den starken Armen des Chauffeurs der
Limousine, und auf die Polster neben einein
sehr würdigen Herrn niedergelassen, der mit
einer Hand dem Chauffeur ein Zeichen gab,
weiterzufahren, und mit der anderen der Menge
und dem Polizisten bedeutete, daß der Zwischen-
fall zu Ende sei, man auseinandergehen und
andere Zerstreuungen suchen könne.

Der Eigentümer der Limousine, Herr Fabre-
Marechal, besaß eines der bedeutendsten Ver-
mögen Marseilles, und befand sich auf dein
Heimweg aus seinem Klub. Er glaubte, unter
dem Einfluß einer sehr natürlichen Regung der
Menschlichkeit gehandelt zu haben, und während
der riesige Wagen der Straße am Meer ent-
lang glitt, streichelte er Achills Hände, fragte
ihn, ob er verletzt sei, ob er noch etwas von
seinem Sturz spüre. Achill war nie verlegen,
wenn es sich darum handelte, ein Märchen zu
erfinden. Er spielte seine Rolle bewundernS-

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Wolf Panizza: Reichsautobahn
Jean Cocteau: Das Phantom von Marseille
 
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