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MORGENMOND

EIN MÜNCHENER KÜNSTLER-ROMAN VON JOHANNA BIRNBAUM

Vorgesang

Durch die norddeutsche Ebene fährt der Zug in südlicher Richtung.
Im Hellen Schein des werdenden Tages liegen die Wiesen. Weit
schimmert der Horizont im roten Licht des Morgens. Nach quälenden
Träumen der Nacht erfüllt mich die Wärme des strahlenden Himmels
mit Mut und Zuversicht.

Da — welch bleiche Nachtgestalt schiebt sich hinter dem leuchtenden
Wolkenschiff hervor? Hat dich daö goldene Licht des Tageö noch nicht
ausgelöscht? Mußt du die Schatten der Nacht und die Erinnerung
an die Finsternis noch in die Helle des jungen Tages tragen?

Morgenmond!

Gestirn zwischen Nacht und Tag, Symbol erscheinst du mir für die
Wirrungen und Kämpfe des Menschen, der wie du lebt zwischen den
Zeiten! Sein Herz gehört dem neuen deutschen Vaterlande, sein
Wesen aber ist noch beschattet von den Vorurteilen und Anschauungen
einer vergangenen Zeit. Voll Verlangen streckt er die Hände dem
neuen Licht entgegen und ist doch noch befangen in den Idealen einer
überholten Kultur und Gesellschaftsordnung, von denen das kommende
Geschlecht nichts mehr wissen wird.

Immer deutlicher formt sich mir die Gestalt der Studentin Barbara,
eines Menschen zwischen den Zeiten, in dessen Herzen das Morgenrot
der großen Revolution jubelnde Freude auslöst, der aber zu schwach ist,
alle Hemmungen, die Erziehung und Umwelt in ihm bedingen, zu
überwinden und das Neue schon vorwegzuleben, bevor es allgemein
anerkannt wird.

Als Gegenspieler ersteht vor mir die kraftvolle Gestalt deö süd-
deutschen Künstlers, der im harten Kampf umS Dasein gestählt wird
und an den Hindernissen wächst. Tatkräftig arbeitet er am Aufbau
des neuen Reiches mit und schreitet unbeirrbar seinem Ziel entgegen.

Je mehr die Gestalten an Fleisch und Blut gewinnen, desto viel-
facher werden die Beweggründe ihrer Handlungen; denn stets formt
sich das Leben aus der größten Mannigfaltigkeit der Erscheinungen.

Menschenschicksale, ganz an der Peripherie des großen Zeitgeschehens
gelebt und doch von ihm beeinflußt!

Bevor die Sonne sich im Westen neigt, bin ich in München. Wahl-
heimat! In dir habe ich vor einem Jahrzehnt zum erstenmal den
Worten des Führers gelauscht und in jugendlicher Begeisterung die
neue Zeit begrüßt. Stadt meiner Liebe, wie kann es anders sein, als
daß sich die Gestalten meiner Erzählung in deinen Straßen bewegen!

München, du Traum von Jugend und Freiheit! Mein Herz singt
dir ein Lied, das Sehnsucht erfand und inniges Gedenken.

Es klingen längst vergessene Wessen von Jugend und Glück, von
Revolution, von Freiheit, von Verachtung bürgerlicher Enge.

Es schwingt ein neues Sehnen nach deinem Glanz und deiner
Schönheit. Ein Traum von Licht, ein Hoffen auf Glück! Ein Rausch
von Liebe und Seligkeit!

Erinnerung kommt an den Duft deö Frühlings, an glutvolles Leben
des Sommers, an den Schmerz des Vergehens, an den nächtlichen
Spuk bunter Gestalten im Schellengewande!

Man muß jung sein im Herzen, um dein Märchen zu verstehen,
Zauberstadt im deutschen Süden!

Schicksalsmäßig bin ich dir verbunden, Stadt meiner Liebe! Du
gabst mir das Glück, als du mich in deine Mauern aufnahmst. Ruhe-
los irrte ich umher, als du dein Kind verstießest.

Geliebte Stadt, das Trübe ist vergessen. Das Lichte blieb. Neues
Glück, entsteige der Vergangenheit! Junge Seligkeit, komm aus der
Erinnerung!

Zehn Jahre zurück drehe ich das Rad der Zeit:

An einem Wochenende im Mai des Jahres 1927 stiegen zwei
Studentinnen inmitten zahlreicher anderer Besucher die breiten Trep-
pen zum Festsaal des Hofbräuhauses hinauf. Eine ohrenbetäubende
Blasmusik schallte ihnen entgegen, die so etwas wie Kirmesstimmung
in ihnen hervorrief. In erwartungsvoller Heiterkeit traten sie in den
Saal und sahen sich in dem dichtbesetzten Raum nach Platz um. Da
rückten auch schon entgegenkommenderweise ein paar Gäste näher zu-
sammen. Eine Kellnerin trug Stühle herbei. Im Handumdrehen
waren die beiden Studentinnen aus dem Norden des Reiches in die
Atmosphäre echtbayerischer Behaglichkeit ausgenommen.

Trotzdem draußen noch heller Tag war, brannten an den großen
Kronleuchtern bereits die Lampen. Dicker Zigarrenqualm lag in der
Luft und mischte sich mit dem Geruch deö Bieres.

Die Mädel wußten sich nicht zu erinnern, daß sie jemals in einer
solchen Umwelt sich wohlgefühlt hatten; hier taten sie'ö. Von den
Leuten, die mit ihnen am Tisch saßen, ging nicht kühle Zurückhaltung
aus, sondern gemütliches Wohlwollen, das zur Unterhaltung ermun-
terte; die konnte aber nicht aufkommen; dafür sorgten die schmetternden
Trompeten. Als die Kellnerin daö Bier brachte, zahlte ein älteres
Ehepaar, das schräg gegenübersaß. Schon standen zwei Neuangekom-
mene Gäste wartend da und nahmen die freigewordenen Plätze ein.

Der jüngere der beiden Herren, von süddeutschem Typ, mußte hier
wohl zu Hause sein; denn er begrüßte Bekannte weiter unten am Tisch
in seinem knorrigen Dialekt. Der ältere, der Sprache nach Rhein-
länder, war blond und hochgewachsen. Er schien sich hier schon gut ein-
gelebt zu haben; mit sichtbarem Behagen verzehrte er sein Ripperl und
Kraut und sog in langen Zügen an seiner Maß.

Die Blicke deö jungen Bayern gingen zu den beiden Damen: „Von
jenseits der Donau", stellte er fest. Nachdem die Instrumente mit
ungeheuerem Kraftaufwand ein Fortissimo in die Höhe getrieben hatten,
fiel die Musik sekundenlang ab, und in diese kurze Atempause hinein
neigte er sich über den Tisch und rief der einen Studentin zu:

„Ja, was moanst, Deandl, mit so an Gscheerten bist noch net bei-
nanda gseffn, ha?"

Da setzte die Musik wieder mit frischer Kraft ein, und der Münchner
schrie ihr lachend zu, jetzt in verständlichem Hochdeutsch:

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Register
Adolf Ritter v. Hildebrand: Zeichnung ohne Titel
Johanna Birnbaum: Morgenmond
 
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