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Kirchturm-Ruine J. A. Sailer

DAS ALIBI

Von Rolf

ndre Lheville war Rechtsanwalt. Einer
jener gesuchten Advokaten in Paris, die
sich auf Alimentationsprozesse spezialisiert
haben. Er übte die Recherche de la pater-
nite mit so gerissener Gewandtheit aus,
daß sich der tote Napoleon I., einst der
Verfasser des Lode civil, mehrmals in
seinem prunksarg im Pantheon entrüstet
umdrehte. Aber Andre Lheville kümmerte
sich nicht darum, bei aller Verehrung, die
ein guter Franzose für den großen Raiser
hat. Die Ruhe des Empereurs war ihm
nicht so wichtig, wie ein gewonnener
Prozeß.

G. Haebler

Der Ruf Andre Lhevilles als eines
erfolgreichen Verteidigers unehelicher
Mütter verbreitete sich sogar bis in die
Provinz. Und wenn ein Fall schwierig lag,
so schrieb der Rollege in Nancy oder in
Orleans an Monsieur Andre Lheville nach
Paris. Und der berühmte Rechtsanwalt
kam, um moralisch armen, aber sonst begü-
terten Mädchen beizustehen.

So bestieg er auch eines spaten Nach-
mittags den Schnellzug nach Lyon. Der
„Rapide" fuhr pünktlich zur ^alle des
„Gare de Lyon" hinaus, und Andre
Lheville begab sich in den Speisewagen,

um zu soupieren. An einem der Tischchen
entdeckte er Mademoiselle Rvonne, eine
seiner Rlientinnen. höflich, aber zurück-
haltend begrüßte er sie, nahm aber dann,
auf eine einladende Geste hin, an ihrem
Lisch Platz.

Er hatte Mademoiselle Rvonne sehr
gut in seinem Gedächtnis. Die hübsche,
etwas zu hübsche Dame, die verschiedene
einträgliche, aber nicht immer ganz ein-
wandfreie Berufe ausübte, war von ihm
schon in drei Alimentationsklagen vertre-
ten worden. Avonne hatte sich dabei
manchmal sehr gerissen gezeigt, — aber
das gehört nicht zu dieser Geschichte.
Jedenfalls hatte Andre Lheville die Pro-
zesse gewonnen, Avonne bekam eine große
Abfindungssumme, und das kleine Rind
wurde irgendwohin auf 's Land in pflege
gegeben.

Sie soupierten miteinander, und Andre
ließ in einer galanten, wenn auch durchaus
absichtslosen Anwandlung von Ravalier
sogar eine Flasche Lhampagner servieren.
Madame zeigte sich von ihrer liebens-
würdigsten Seite, was ihr nicht allzu-
schwer siel. Denn erstens war Andre
Lheville ein hübscher Mann Anfang Vier-
zig, und zweitens hatte sie genügend
technische Erfahrungen, um zu wissen, wie
man Männer fesselt. Andre ließ sich fesseln.
So schien es wenigstens Rvonne. Nach
dem Essen lud Rvonne ihren Anwalt ein,
noch ein wenig in ihr Abteil zu kommen;
dort könne man ungestörter plaudern. Zu-
dem würde sie gerne bei dieser Gelegenheit
ihn in einer juristischen Angelegenheit um
Rat angehen. Andre sagte nach einigem
Zögern zu, geleitete Mademoiselle Avonne
an ihr Schlafwagenabteil und bat sie, ihn
noch einige Minuten zu entschuldigen.

Rvonne machte es sich in dem noch nicht
gerichteten Abteil bequem, wartete, und
richtig, nach etwa fünf Minuten erschien
Monsieur. Er qualmte eine dicke Zigarre
und bat Madame, ihm das Rauchen zu
gestatten, er pflege das nach Lisch zu tun
und sei unglücklich, wenn man es ihm
nicht erlaube.

„Mais ouir", sagte Rvonne und zündete
sich eine Zigarette an.

Nach etwa zehn Minuten juristischer
Unterhaltung empfahl sich der Anwalt —
er müsse noch Akten studieren und wolle
dann schlafen. Freundlich verabschiedeten
sie sich. Andre ging in sein Abteil, um
sofort ruhig aus dem bekannten sanften
Ruhekissen einzuschlummern.

Am frühen Morgen kam der Zug in
Lyon an. Andre Lheville stieg aus.
Mademoiselle Rvonne fuhr weiter nach
der Riviera. Sie hatte nicht mit ganz so
unbeschwertem Gewissen geschlummert.
Aber sie lächelte gerade im Lraum, als
der Zug Lyon nach kurzem Aufenthalt
verließ.

Es vergingen etwa neun Monate. Da
erhielt der Rechtsanwalt Andre Lheville
in Paris eine Zuschrift, die von ihm als
Vater eines unehelichen Rindes einer ge-
wissen Rvonne eine beträchtliche Alimen-

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Register
Joseph Andreas Sailer: Kirchturm-Ruine
Rolf Gusta Haebler: Das Alibi
 
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