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( Jeleörarnvn ans Cy\aönja

V o 11 wilhelmine Baltinest e r


ines tNorgeirs erhält Lotte-Lore
Wolf ein Telegramm aus Ragusa:
„Romme gleich zu mir. Geld gebt gleich-
zeitig telegrafisch ab. Erwarte dich am
Hafen von Gravosa. Heinrich."

Lotte-Lore Wolf steht wie in einer Le-
wußtseinsspaltung. Ist das nun wabr
oder nicht wahr; hält sie dieses knisternde
Telegramm in der Hand oder ist das
Wachtraum; Sie beifit sich in die Finger-
knöchel, es tut web, folglich ist sie wach
und das Telegramm aus Ragusa ist Tat-
sache. Deutlich steht da: Lotte-Lore Wolf
und auch ihre genaue Adresse. Es gibt
keinen Zweifel, es kann kein Irrtum sein.
Aber wer ist dieser Heinrich; Jetzt lautet
die Türglocke noch einmal gellend. Lotte-
Lore stürzt Kinaus. Die Geldanweisung
ist da. Ein recht ansehnlicher Betrag, für
den man in Ragusa bestimmt ein paar
luxuriöse Wochen verbringen kann. Lotte-
Lore nimmt das fremde Geld in ihre
Hände, die ihr gar nicht die ihrigen zu
sein scheinen. Sie kennt keinen Heinrich,
bat nie einen Heinrich gekannt. (Der
Vkanie gefiel ihr übrigens nie, er ist alt-
modisch und banal). Aber dieser Heinrich
scheint allerdings kein banaler Heinrich zu
sein. Lotte-Lore laßt die Geldscheine
rascheln. „Unmöglich! Ich kann doch nicht
einfach losfahren. Bielleicht ist es ein
Gaunertrick. Vielleicht ein Mädchen-

händler!" Jetzt muß sie lachen. Eine
Witwe von fünfundzwanzig Jahren wird
sich doch nicht vor Mädchenbändlern fürch-
ten. Sie gebt auf und ab und grübelt:
Rückfrage nach dem Aufgeber des Tele-
gramms halten; Zur Polizei geben; wer
ist dieser verrückte Heinrich: Die Ubr tickt,
Stunden vergeben in fruchtlosem Grübeln.
Man hat ein bißchen aufs Gepäck geschaut,
die Toilettenfrage erwogen, dann den
ganzen Reiseplan wieder verworfen.

Die Türglocke gellt, wieder ein Tele-
gramm: „Liebste, komm bestimmt. Ich
sehne mich so sebr." Sebr gut dosiert, diese
Telegramme; das jetzige kommt genau in
jene Grübelstimmung hinein, in der ein
beifies sehnsüchtiges Wort alle Bedenken
stürzen und den Mann zum Sieger machen
kann.

„So ein Narr! So ein dummer Scherz!
Ich fahre bestimmt nicht!"

Am nächsten Morgen um halb acht sitzt
Lotte-Lore im Schnellzug, der Anschluß
nach Spalata bat, von wo aus der Damp-
fer nach Ragusa fährt.

Daß sie im Zuge sitzt, erscheint ihr selbst
am unwahrscheinlichsten. Bor jeder Sta-
tion nimmt sie sich vor: Jetzt steig' ich
aus und fahre nach Wien zurück: — Die
Grenze ist erreicht, die Zollrevision erle-
digt. Nun scheint es ihr besiegelt: Ich
fahre also nach Ragusa. Und von jetzt an

gehören ihre Gedanken nur dem Unbe-
kannten. wie sieht er aus; Wer ist en
Sehr häßlich, sehr alt; Übermäßig juntp
Nur das nicht! hoffentlich gerade mittel- \
jung, das ist das Alter, das sie anzieht.
Schwärmeraugen; Nur nicht zu roniam &
tisch, bitte! Aber viel Herz soll er haben,
viel Zärtlichkeit geben, viel Zärtlichkeit
fordern, hoffentlich steht er nicht mit I
roten Rosen am Hafen von Gravosa. Das
wäre entsetzlich — nein, es wäre wunder-
schön.

In der Rajüte liegt Lotte-Lore wach.

Die Meeresnacht — die Einsamkeit — das
Abenteuer. Sie bat mit einemmal Angst
vor dem Abenteuer, wäre es ein Zug
und kein Dampfer, sie stiege jetzt wirklich
aus. Sie muß an ihre Eltern denken, vor- >
nehme, reservierte Leute mit granitfesten
Borkriegsgrundsätzen. Mama würde mit
sehr schmalen Lippen sagen: „Aber Lotte-
Lore! wir haben dich doch so gut erzo-
gen!" Das Schiff schlingert ein wenig,
wenn sie nur nicht seekrank wird, dann
ist sie morgen grün und häßlich.

Gravosa! Das Schiff legt an. Wo ist
er; Biele Menschen, aber kein einziges
besonderes Gesicht eines distinguierten
Fremden, wie sie es erhofft und erwartet
bat. Sebr enttäuscht, sehr zögernd gebt
sie den steilen Landungssteg vom Dampfer
zum Hafen hinunter. Raubes Stimmen-
gewirr empfängt sie; ihr Gepäck landet
in einem Hotelauto, das nach Ragusa
fährt. Sie siebt und schaut sich suchend
um. Er ist nicht gekommen. Empörung
kocht in ihr. Es ist unerhört, es ist eine
Beleidigung, eine Verspottung.

Sie bat keinen Blick für den Reiz der
fremden Landschaft. In Ragusa, im
Hotel wird sie gleich nach ihm fragen.
Aber wie; Rann man einen Portier ein»
fach nach einem Herrn Heinrich fragen;
Sie weiß ja nicht einmal seinen Familien-
namen.

Sie packt nicht aus. Sie siebt auf dem
Balkon ihres Zimmers, schaut zu dem
blauen Meeresstreifen hinüber, ohne ihn
zu sehen, wenn dieser Heinrich bis abends
nicht kommt, fahre ich nach Hause.

Unten saust ein Auto heran, hält. Ein
Herr springt sebr eilig heraus. Rote
Rosen in der Hand. Lotte-Lores Herz gebt
in hohen Wellen. Ein paar Minuten
später klopft es an der Zimmertür. Das
Mädchen bringt die Rosen.

„Herr im Lesezimmer wartet", sagt sie
in ihrem unbeholfenen Deutsch.

Lotte-Lore — zwei von seinen Rosen
in der Hand — betritt das Lesezimmer.
Mienenspiel kübl, überlegen, das Herz ein
klopfender Hammer.

Großer Handkuß, langes Anstarren.
Verwirrend zärtliche klugen bat er.

„Ich sab Ihr Bild in einer Moden-
zeitschrift: Frau Lotte-Lore Wolf in

königsblauem Samt. Da war mein
Schicksal besiegelt.

„Jetzt weiß ich wenigstens, woher Sie
mich kennen. Aber —" Sie stockt.

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Register
Eugène Max Cordier: Zeichnung ohne Titel
Wilhelmine Baltinester: Telegramm aus Ragusa
 
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