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Kandinsky, Wassily
Punkt und Linie zu Fläche: ein Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente — München, 1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.29206#0051
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heutige Tag ist nur ein Sprungbrett nach dem „morgen“ und kann
nur in dieser Eigenschaft mit innerer Ruhe aufgenommen werden.

Jeder naturgemäße Unterschied kann nie oberflächlich bleiben und
darf es nicht — er muß in die tiefe Tiefe weisen, d. h. in das Innere
der Dinge. Auch die technischen Möglichkeiten wachsen so zweck-
mäßig und zielbewußt, wie jede Möglichkeit sowohl im „materiellen“

Leben (Fichte, Löwe, Stern, Laus) als auch im „geistigen“ (Kunst-
werk, moralisches Prinzip, wissenschaftliche Methode, religiöse
Idee).

Wenn die Gesichter der einzelnen Erscheinungen = Pflanzen sich Wurzel

so voneinander unterscheiden, daß ihre innere Verwandtschaft ver-

borgen bleibt, wenn diese Erscheinungen dem oberflächlichen Auge

äußerlich wie ein Wirrwarr vorkommen, so können sie doch auf

Grund der inneren Notwendigkeitin eine Wurzel zurück-

geführt werden.

Auf diesem Wege lernt man auch den Wert der Unterschiede kennen, Irrwege
die zwar im Grunde immer zweckmäßig und begründet sind, die sich
aber bei leichtsinniger Behandlung durch naturwidrige Mißgeburten
grausam rächen.

Diese einfache Tatsache läßt sich deutlich auch auf dem engeren
Gebiete der Graphik beobachten —- das Mißverstehen der Grund-
unterschiede der obenerwähnten Möglichkeiten des Verfahrens hat
hier häufig zu unnützen und deshalb abstoßenden Werken geführt.

Ihre Entstehung verdanken sie der Unfähigkeit, das Innere der
Dinge im Äußeren zu erkennen — die wie eine leere Nußschale hart-
gewordene Seele hat ihre Tauchfähigkeit verloren und kann nicht
mehr in die Tiefe der Dinge durchdringen, wo der Pulsschlag unter
der äußeren Hülse hörbar wird.

Die Graphikerspezialisten des 19. Jahrhunderts waren nicht selten
auf ihre Fähigkeit stolz, durch einen Holzschnitt eine Federzeich-
nung vorzutäuschen oder durch eine Lithographie eine Radierung.

Derartige Werke können nur als testimonia paupertatis bezeichnet
werden. Der krähende Hahn, die knarrende Tür, der bellende Hund
können, auf der Geige noch so kunstvoll nachgeahmt, nie als Kunst-
leistungen taxiert werden. 41
 
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