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Kemp, Wolfgang; Heck, Kilian [Hrsg.]
Kemp-Reader: ausgewählte Schriften — München, Berlin: Dt. Kunstverl., 2006

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https://doi.org/10.11588/diglit.55647#0101
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Das Revolutionstheater des
Jacques-Louis David
Eine neue Interpretation des »Schwurs im Ballhaus«

Uns Kunsthistoriker als »artistes manquees« faszinieren die großen unvollendeten Projek-
te der Kunstgeschichte, die wir in Gedanken zu Ende führen dürfen. Gerade die Werke
jedoch, die sich nicht in der Realität haben bewähren müssen, verleiten dazu, sie in idea-
ler Gestalt ohne Außenbeziehungen wieder auferstehen zu lassen. Als Interpretation eines
berühmten Torsos der Kunstgeschichte will dieser Beitrag zeigen, welche entscheidenden
Verständnishilfen die Funktion und räumliche Bestimmtheit des Kunstwerks bereithält,
in jedem Fall, besonders aber im Fall der kühn geplanten und gescheiterten Projekte.
Dies am Beispiel von Davids »Schwur im Ballhaus« zu versuchen, mag seine Legiti-
mation aus einer Überzeugung des Künstlers selbst nehmen, der einige Jahre nach Beginn
dieser Arbeit erklärte: »Wißt wohl, daß man in Frankreich die Künste nicht wirklich liebt.
Hier herrscht ein erkünstelter Geschmack. Wenn man auch einen lebhaften Enthusias-
mus den nach Frankreich verpflanzten Meisterwerken Italiens entgegenbringt, so be-
trachtet man sie im Grunde doch nur als Kuriositäten und Reichtümer. Der Platz, den ein
Kunstwerk einnimmt, die Distanz, die man abschreitet, um es angemessen zu bewundern,
tragen auf einzigartige Weise dazu bei, seinen Wert zu bestimmen. Besonders die Bilder,
die einmal Schmuck der Kirchen waren, verlieren einen großen Teil ihres Reizes und ihrer
Wirkung, wenn sie nicht mehr an dem Platz sind, für den sie geschaffen wurden.«1
I
Es geht also um Jacques-Louis Davids »Schwur im Ballhaus«.2 Zunächst ein kurzes
Resümee der bekannten Daten und Fakten: Am 20. Juni 1789 versammelten sich die Ab-
geordneten des Dritten Standes im Versailler Ballhaus, einem großen, kargen Raum, den
man für Tennis- oder Federballpartien anmieten konnte, nachdem der König sie von ihrem
eigentlichen Tagungsort ausgeschlossen hatte, und erklärten in einem ernsten Schwur,
»nicht eher auseinander zu gehen«, »bis das Königreich eine Verfassung erhalten habe«.
Die Abgeordneten des Dritten Standes erhoben damit den Anspruch, für die Nation als
ganze zu handeln, und sie bezeichneten ihr politisches Ziel: die Verfassung des bürger-

1 J.-L. David zit. nach J. L.J. David, Le peintre Louis David, 1748-1825, Paris 1880, S. 339f.
2 Zum »Ballhausschwur« s. zuletzt die umfassenden Darstellungen von A, Schnapper, David. Temoin de son
temps, Paris, 1980, S. iozfF. u. P. Bordes, Le Serment de Jeu de Paume de Jacques-Louis David, Paris 1983.
Dort die ältere Literatur.
 
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