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Kemp, Wolfgang; Heck, Kilian [Hrsg.]
Kemp-Reader: ausgewählte Schriften — München, Berlin: Dt. Kunstverl., 2006

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https://doi.org/10.11588/diglit.55647#0103
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Eine neue Interpretation des »Schwurs im Ballhaus^

IOI

fordernd war. Ohne Beispiel war der Auftraggeber: Das Parlament, die Vertretung des
Volkes ergriff die Initiative, die vorher vom König oder von der Kommune ausgegangen
war. Finanziert werden sollte das Unternehmen durch öffentliche Mittel. Bestimmt war
das Bild für einen Bau, für einen Raum, den es in Frankreich noch nicht gegeben hatte
und der im Moment, als David den Auftrag bekam, noch in der Planung war: für den
Sitzungssaal eines Parlamentes. Ungewöhnlich, selbst nach feudalen Maßstäben, war der
Umfang des Werkes, den der Abgeordnete Dubois-Crance großzügig auf 20 x 30 Fuß
veranschlagt hatte - das sind 6,35 m x 10 m den David dann gar auf die Maße 8,65 x
11,65 m erweiterte. Ein 100 qm großes Bild nicht als Fresko, nicht als Mosaik, wie Dubois-
Crance ursprünglich gedacht hatte, sondern als Tafelbild auszuführen, das stellte den
Maler vor gewaltige technische und künstlerische Probleme. Ganz ohne Vorbild war auch
das Thema: Eine revolutionäre Menge, 600 Personen, als Hauptgegenstand einer so
riesigen Komposition, das hatte es noch nie gegeben. Und ein völlig neues Verständnis
von Historienmalerei offenbarte sich darin, daß man ein Ereignis der allerjüngsten Ver-
gangenheit, einer noch in lebendiger Entwicklung befindlichen Geschichtsepoche, zu
monumentalem Format erhoben sehen wollte. Jede dieser Herausforderungen hätte ge-
nügt, einen Maler aus dem zweiten Rang verzweifeln zu lassen. David aber hätte vielleicht
sogar die Ballung der Probleme bewältigt, wenn nicht äußere Schwierigkeiten hinzuge-
kommen wären. Es gelang ihm noch, die Umrißlinien der Vorzeichnung auf die Leinwand
zu übertragen und einige Köpfe porträtgenau auszumalen - dann ging er selbst in die
Politik, wurde er Abgeordneter und als »Zeremonienmeister der Republik« ein vielbe-
schäftigter Mann, und dann begann die Zeit, da immer mehr Protagonisten des 20. Juni
1789 von der politischen Bühne verschwanden, Kopf und Leben unter der Guillotine
ließen. Bailly, Mirabeau, Barnave-Saint-Etienne, Robbespierre — einige unverzichtbare
Gestalten der vordersten Reihe starben, wurden hingerichtet oder politisch mißliebig in
den selben Jahren, in denen David sein Bild hätte malen sollen.5 So blieb das große Werk
Fragment, bestimmte aber in seiner reproduzierten Gestalt, als Kupferstich die Vorstel-
lung der Zeitgenossen und aller Nachgeborenen: Historisches Ereignis und Historienbild
sind selten so identisch geworden wie in diesem Fall.
Dabei war David nicht der erste und nicht der einzige, der das Geschehen vom
20. Juni 1789 im Bild festhielt. Und seine Version kann vielleicht am wenigsten den
Anspruch auf historische Korrektheit erheben. Ein Vergleich macht die Besonderheiten
der Bildanlage Davids sinnfällig. Charles Monnets Kupferstich gibt den Raum in Schräg-
ansicht (Abb. 2): er gruppiert die Abgeordneten zu einem nach vorne offenen Halbkreis;
er verlegt also den zentralen Punkt des Geschehens in die Tiefe des Saals: dort spricht Bailly,
der Präsident der Versammlung, die Schwurformel vor; er läßt den Betrachter einen Stand-
punkt einnehmen, der nach den Regeln der Zentralperspektive etwa in der Mitte der Wolke
liegt.6 Kurz: Monnet wahrt Abstand zum Geschehen und läßt auch das Geschehen sich
verhältnismäßig frei und ungezwungen entwickeln. Ob David mit der Möglichkeit einer

5 Zurweiteren Geschichte des »Ballhausschwurs« s. Schnapper (wie Anm.z), S. Ii8ff., Bordes (wie Anm.z), S. 85H.
6 Charles Monnet u. Isidor Helman, Der Schwur im Ballhaus, angekündigt im Moniteur 8. Okt. 1792, ausge-
stellt im Salon 1793, s. E-L. Bruel, Un siede d’histoire de France par l’estampe 1770-1871. La Collection Vinck,
Paris 1909!^., Nr. 1460. Die anderen Darstellungen, ebda. Nr. I455ff. und bei Bordes (wie Anm. 2), S. 24lff.
 
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