Leidenschaft und Welt°°
4. September 4840 bis 22. Mai 4843
labor oinnia vineit
Iinprobus. Vir§il.
„Mein Herz werde ich nie ungerochen antaften
lassen, und ich werde Ihren Namen in Zukunft
allezeit nennen, so oft ich ein Beispiel
eines rachsüchtigen Lügners nötig habe^o".
Lessing, gegen den Pastor Lange in Laublingen; 7753.
* * *
Ich komme nun zu der schreckenvollsten Zeit meines ganzen Lebens,
gegen welche alle frühern und spätem Leiden nur leicht wiegen: Es waren
die Monate, die von jenem 4. September bis zu dem Entschlüsse verflossen,
das leuchtende Glück, das mir sich bot, auch wirklich zu ergreifen.
Unsere wunderbare Rettung, die wir anfangs sorglich geheim hielten,
hatte vor uns selber die verhüllte Tiefe unserer Herzen erschlossen. Der erste
Kuß offenbarte beiden, wie glühend wir uns liebten, und in flammenden
Liedern ergoß sich die nicht mehr zu verhehlende Leidenschaft. In mir brach
sie erst jetzt eben so unbezwinglich hervor, wie ich bis dahin durch ruhigen
Willen sie noch zu beherrschen vermocht hatte. Nie hatte ich meine Jugend
an irgendein Weib verschwendet: Die ganze Stärke der Liebesglut lag in mir
noch schlummernd unter Asche verborgen; nun aber, von der Leidenschaft mit
Einem Blitze erweckt, seit Johanna den Einen Moment an meiner Brust,
an meinen Lippen geruht, durchzuckte sie mir Mark und Gebein. Leib und
Seele loderten in gleicher Flamme: Nicht mehr Blut lief in meinen Adern,
sondern geschmolzenes Blei, und mein Fieber wurde umso wilder, als ich
mich seiner Gewalt noch immer zu widersetzen versuchte. Johanna litt
grenzenlos, weil sie den Geliebten und Liebenden im Besitz einer andern
sah — aber ich litt unendlich tiefer, denn mir war der Kuß ein Verbrechen,
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4. September 4840 bis 22. Mai 4843
labor oinnia vineit
Iinprobus. Vir§il.
„Mein Herz werde ich nie ungerochen antaften
lassen, und ich werde Ihren Namen in Zukunft
allezeit nennen, so oft ich ein Beispiel
eines rachsüchtigen Lügners nötig habe^o".
Lessing, gegen den Pastor Lange in Laublingen; 7753.
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Ich komme nun zu der schreckenvollsten Zeit meines ganzen Lebens,
gegen welche alle frühern und spätem Leiden nur leicht wiegen: Es waren
die Monate, die von jenem 4. September bis zu dem Entschlüsse verflossen,
das leuchtende Glück, das mir sich bot, auch wirklich zu ergreifen.
Unsere wunderbare Rettung, die wir anfangs sorglich geheim hielten,
hatte vor uns selber die verhüllte Tiefe unserer Herzen erschlossen. Der erste
Kuß offenbarte beiden, wie glühend wir uns liebten, und in flammenden
Liedern ergoß sich die nicht mehr zu verhehlende Leidenschaft. In mir brach
sie erst jetzt eben so unbezwinglich hervor, wie ich bis dahin durch ruhigen
Willen sie noch zu beherrschen vermocht hatte. Nie hatte ich meine Jugend
an irgendein Weib verschwendet: Die ganze Stärke der Liebesglut lag in mir
noch schlummernd unter Asche verborgen; nun aber, von der Leidenschaft mit
Einem Blitze erweckt, seit Johanna den Einen Moment an meiner Brust,
an meinen Lippen geruht, durchzuckte sie mir Mark und Gebein. Leib und
Seele loderten in gleicher Flamme: Nicht mehr Blut lief in meinen Adern,
sondern geschmolzenes Blei, und mein Fieber wurde umso wilder, als ich
mich seiner Gewalt noch immer zu widersetzen versuchte. Johanna litt
grenzenlos, weil sie den Geliebten und Liebenden im Besitz einer andern
sah — aber ich litt unendlich tiefer, denn mir war der Kuß ein Verbrechen,
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